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Das Gottesbild der jüdischen Mystik

(Vortrag von Michel Blllag am 18. Februar 2008 im Katharinensaal St. Gallen)

Mit jüdischer Mystik wird meistens unmittelbar das Wort Kabbala assoziiert, so als wären die beiden Begriffe synonym. Diese Gleichung ist zumindest historisch und ich glaube auch sachlich betrachtet ungenau. Der Begriff „Kabbala“ im engeren Sinn bezieht sich auf ein Komplex von Vorstellungen, Spekulationen, Symbole, Riten, die sich in der zweiten Hälfte des 12.und im 13. Jahrhunderts in der Provence und in Spanien entfaltet haben und von dort aus, sich in allen jüdischen Zentren im Land Israel und in der Diaspora verbreitet haben. Eine jüdische Mystik im Sinne der Suche nach einer intimen Nähe zu Gott gab es jedoch schon lange zuvor und es gibt sie auch ausserhalb des kabbalistischen Welt- und Gottesbildes. Spuren dieser Mystik lassen sich in der Bibel selbst, besonders aber in der klassischen Rabbinischen Literatur , im Talmud und den Midrasch Sammlungen finden, Spuren, die sich später in den klassischen Werken der mittelalterlichen und Neuzeitlichen Kabbala verdichten haben und ihre besondere mystische Gestalt erhielten. Aus praktischen Erwägungen, und weil es sich im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert hat, verwende ich in diesem Vortrag die Begriffe Kabbala und jüdische Mystik als synonym.
In den frühen literarischen Zeugnisse der jüdischen Mystik die sich nach der Zerstörung des 2. Tempels, parallel zu den klassischen Werken der rabbinischen Literatur bildete, kommt sie aber noch ohne jene spezifischen Symbolen und Begriffe aus, die in den letzten zwanzig bis dreissig Jahre im Sog der esoterischen Welle - einen grossen Bekanntheitsgrad erreicht haben. Ich meine da insbesondere das Symbol des Lebensbaums, den zehn Sefirot.. Diese Symbole und Begriffe sind es, die man im engsten Sinne des Wortes mit dem Begriff Kabbala zu verbinden hat. Mit diesen Symbolen beschreibt der Kabbalist das innere Leben seines Gottes, versucht die Kräfte die in allen Dingen wirken, so auch in ihm selbst, zu erkennen, um ihm näher zu kommen und dadurch Gott in dieser Welt sichtbar zu machen, oder präziser formuliert, ihn wirken zu lassen.
Vollkommen verfälscht wäre es, das Gottesbild, das sich hinter dem Komplex an Bildern, Symbole und Begriffe manifestiert, die die Kabbala produziert hat, als etwas vollkommen neues und vom Judentum der Bibel und des Talmuds verschieden, quasi abtrünniges zu verstehen. Im Gegenteil, das Gottesbild der Kabbala fundiert auf biblische und rabbinische Gottesbilder.
Denn im Gegensatz zum philosophischen Ansatz, der unter dem Einfluss des durch den Islam vermittelten griechischem Denkens sich ab dem 9. Jahrhundert etablierte und die radikale Transzendenz, und daher auch Unerkennbarkeit Gottes betont, setzten die Kabbalisten unmittelbar bei den biblischen Schilderungen eines Gottes an, der lebt und in die Geschicke der Menschen eingreift Dieses Bild eines lebendigen und daher auch dynamischen und Menschen nahen, immanenten Gottes, in dessen Ebenbild wir erschaffen sind, nehmen die Kabbalisten ernst. Gott lebt wirklich, so wie wir, präziser und in typisch kabbalistischer Sprache formuliert: wir leben so wie er lebt, bzw. sein Leben ist ein Modell für unser Leben.
Für die Kabbalisten sind die uns bekannten biblischen Bilder nicht einfach wie für die Rationalisten Anthropomorphismen, sondern reflektieren das innere Leben der Gottheit. Die biblische Vorstellung eines lebendigen Gottes, die wie wir noch zeigen werden bereits die Rabbinen zu kühnen Interpretationen inspirierten, wird von den Kabbalisten in einer Radikalität gedeutet, die Menschen erstaunen, ja manchmal schockieren mögen, welche sich daran gewöhnt haben, das Bild des allmächtigen Gottes, dessen Willen der Mensch gehorsam zu erfüllen hat, sich so eingeprägt haben, dass sie dieses Bild mit Gott selbst gleichsetzen. Die Ohnmacht, die der Mensch vor diesem Gottesbild empfinden mag, hat nicht wenige dazu geführt Gott zu töten, wie Nietzsche es formuliert hat. Doch das was Nietzsche als Tod Gottes diagnostiziert hatte, ist vielleicht nichts anders als der Tod eines Gottesbildes, das im Laufe der Zeit zum Götzen geworden war.
Bevor ich aber eingehender auf das jüdische und dann spezifisch auf das kabbalistische Gottesbild eingehe, möchte ich nochmals auf den Begriff Kabbala und dessen Verwurzelung in der jüdischen Tradition zurückkommen.
Was bedeutet tatsächlich das heute so populär gewordenen Wort Kabbala, das häufig den Hauch des Mysteriösen trägt und heute manchmal als billige Esoterik teuer verkauft wird?
Kabbala meint zunächst etwas ganz prosaisches. Entsprechend seiner Herleitung aus dem hebräischen Wortstamm K-B-L, empfangen, wird mit diesem Begriff den Prozess des Empfangens und Weitergebens der religiösen Tradition des Judentums beschrieben.
Kabbala meint also primär ein Wissen, das aus einer Überlieferung empfangen wurde, beziehungsweise der Prozess des Empfangens und Weitergebens der religiösen Tradition. Ein Prozess freilich im Verlaufe dessen diese Tradition weiter entfaltet, neu gedeutet und damit auch bereichert wird.
In der Rabbinischen Literatur bis hin ins 12. Jahrhundert bezeichnete der Begriff Kabbala alle Traditionen, die auf der Tora des Moses fundierten. Die Formel Tora des Mosche vom Sinai wurde von den Talmudgelehrten kreiert. Sie steht für die Verbindlichkeit aller überlieferten oder von den Talmudgelehrten selbst erlassenen Gesetze, Bräuche und Lehren, die nicht in der Tora, also den 5 Bücher Moses oder in sonstigen Büchern der heiligen Schrift enthalten sind oder auf sie zurückführbar sind, also in einem historischen Sinn ursprünglich sind.
Im engeren Sinne umfasste die Tora des Moses vom Sinai zunächst nebst der Schrift selbst, also der 5 Bücher Moses im engeren Sinn und der Hebräischen Bibel im umfassenden Sinn das, was als mündliche Tora bezeichnet wird , das heisst alle die im Talmud verwendeten Interpretationsschlüssel der Schrift und in Ihm enthaltenen Anweisungen zur Umsetzung der Gebote der Tora in die alltägliche Praxis.
Genau diese Vorstellung des Prozesses einer mündlichen Tradierung der exoterischen Lehre haben jüdischen Mystiker im 12. und 13. Jahrhundert in der Provence und in Spanien übernommen, um ihre esoterische Lehre, die so genannte „Torat hanistar „ Lehre des Verborgenen zu  benennen. Die Inhalte dieser Lehre wurden zunächst mündliche überliefert, aber nur innerhalb eines Kreises von Initiierten, von solchen also die auf Grund verschiedener Kriterien wie Toragelehrsamkeit und ethischer Kompetenz, wie man heute sagen würde als würdig betrachtet wurden,in den Mystikerkreisen in aufgenommen zu werden. Von daher vielleicht auch die Bezeichnung „Mekubal“, aufgenommen, empfangen, für einen Kabbalisten.
Indem diese Mystiker einen Begriff  verwendeten, der im rabbinischen,als so inIitutionalisierten Judentum vertraut war und für die Zurückführung aller religiösenRiten(Gebote) und Ideen auf die Tora selbst stand, brachten sie ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass ihre mystischen Erkenntnisse, Lehren und Praktiken ebenfalls zum legitimen Erbe des Judentums gehörten, ja sogar den innersten Kern der Tora bildeten.
In der Tat offenbart das Studium Kabbalistischer Texte eine Fülle von Einflüsse aus Christentum und Islam, darüber hinaus aber auch aus der griechischen Philosophie, insbesondere dem Neo-Platonismus und der heidnischen Welt der Spätantike. Es finden sich in ihr Spuren von jüdischen Auffassungen, die vom institutionalisierten Judentum an den Rand oder in den Untergrund gedrängt worden waren und dort eine marginale Existenz nebst der „Orthodoxie“(wenn man diesen Begriff hier so verwenden darf ) fristeten.  
Anstatt jedoch diese Elemente, auszuchliessen, tendierten die Kabbalisten dazu, diese neu zu formulieren und sie in den Überlieferungsstrom des jüdischen Monotheismus zu integrieren.
Genauer formuliert und entscheidend für das Verständnis der jüdischen Mystik: Die Kabbalisten deuteten ihre Erfahrungen und die darauf beruhenden Erkenntnisse im Licht der Tora und zwar der Tora als Schrift, einer Schrift in der und durch die Gott sich gleichzeitig verbirgt und offenbart. Sie, die Schrift bildet den Horizont, in welchem die Kabbalisten ihre mystischen Erfahrungen, Bilder und Symbole deuten und diese damit zum Bestanteil von Tora selbst gestalten, Der Torat Hanistar, der Tora des Geheimnisses, der Tiefendimension der Tora.. Die Originalität der jüdischen Mystik besteht darin eine Mystik der Schrift zu sein. Der Kabbalist begegnet seinem Gott vornehmlich in der Schrift. In der Schrift offenbart sich sein Name.
Nicht zuletzt dieser Verankerung der Kabbala in der Tora, die wie angedeutet wurde, weit mehr ist als ein materiell-irdisch vorhandenes von Gott gegebene Gesetzesbuch, verdankt es die Kabbala, sich innerhalb des institutionalisierten, rabbinischen Judentums, etabliert zu haben und sogar von vielen als authentischster Ausdruck des Judentums betrachtet zu werden.
Jede mystische Form von Religion – d.h. eine Religion, die auf die persönliche Suche einer intimen, erfahrbaren Gottesbeziehung beruht, sucht den Gott, der ihr – wie G. Scholem schrieb – „in den spezifischen religiösen Vorstellungen der Gemeinschaft entgegentritt, in der sie sich entwickelt.“ Insofern sind hier jene grundlegenden theologischen Aussagen der jüdischen Religion in Erinnerung rufen, die bereits im Tenach, der hebräischen Bibel angelegt sind, in der rabbinischen Literatur interpretiert und weiterentwickelt wurden, die die jüdischen Mystiker aller Zeiten zu weiteren Deutungen inspiriert haben. Dabei ist es im Hinblick auf das Gottesbild in der jüdischen Mystik wichtig zu betonen, dass die Bibel nicht vom göttlichen Wesen spricht, sondern von dessen Interaktionen mit den Menschen. Der biblische Gott ist kein philosophisches Abstraktum, sondern Elohim Chajim (Gott des Lebens oder auch Lebendiger Gott) Zu diesen religiösen, Vorstellungen, die den Ausgangspunkt kabbalistischen Fragens, Spekulierens, rituellen Praktizierens und Beten ist gehören vier Aussagen.


1. Aussage: Gott hat die Welt erschaffen. Diese materiell erscheinende Welt hat eine vorgegebene Ordnung, einen Reschit einen Anfang (Ordnung). Nach rabbinischer Auffassung wurde dieser Reschit von Gott noch vor dieser erscheinenden Welt erschaffen. Die Welt beruht somit auf  prä-erschaffene Grundfesten geistiger Natur, existentielle Voraussetzungen ohne die, die Welt zum Chaos zurückkehren würde. Die Schöpfung ist also in der Hauptsache Ordnen der Welt, ein Ordnen, das Gott jeden Tag neu vornimmt und zu dem der Mensch eingeladen ist, als Partner zu partizipieren. Dieses jeden Augenblick neu beginnende schöpferisches Handeln Gottes bringt die tägliche Morgenliturgie zum Ausdruck, wenn es heisst: „Gesegnet bist Du Ewiger unser Gott, König der Welt, der das Licht formt und die Finsternis erschafft, der Frieden herstellt und alles erschafft.“  (Midraschim aus Bereschit rabba und pirkeij derabbi elieser)
2. Aussage Gott ist nicht nur Schöpfer, er ist auch Herr der Geschichte. Er mischt sich in die Geschicke der Menschen ein. Er hört auf das Klagen seines Volkes, befreit und erlöst es aus seinem Leid, an dem er mitleidet. Der biblische Gott erweist sich also als ein Gott der Recht einfordert und auch einklagt, ein langmütiger, gnädiger und erbarmungsvoller Gott, der  von Schuld reinigt.
3. Aussage: Gott hat die Tora, die Ordnung und Ursache der Welt dem Volk Israel stellvertretend für alle Völker am Berg Sinai kundgetan, damit es diese Ordnung auf Erden, konkretisiert, realisiert. Diese Tora beinhaltet die 613 Ge-und Verbote, die Mizwot,
die das jüdische Volk erfüllen muss. Diese Gebote umfassen alle Lebensbereiche, das heisst, all dessen kollektiven und individuellen  Dimensionen: das Recht, die Wirtschaft, die soziale Wohlfahrt, die Politik, die Familie und den religiösen Kult.
4. Aussage: Schöpfung, Befreiung und Erwählung des jüdischen Volkes zur Erfüllung der Tora sind auf eine zukünftige, messianische Erlösung ausgerichtet, die immer im Kommen begriffen ist und die die Humanität als Ganzes betrifft. Eine Realität, die anders ist als die unsere, eine messianische, in der das Chaos des Unrechtes und daraus folgend ein Zustand des Krieges herrscht. Die jüdische Tradition nennt diese Wirklichkeit „Königreich Gottes“. Diese Wirklichkeit ist eine unabdingbare Komponente des jüdischen Glaubens. Sie verweist sowohl auf die Notwendigkeit menschlichen Handelns im Hinblick auf dieses Ziel als auch auf die Einsicht, begrenzte Möglichkeit des Menschen, dieses Ziel zu erreichen. Diese Beschränktheit unterstreicht die rabbinische Tradition damit, dass die endgültige Erlösung von Gott selbst und nicht vom Mensch kommt.

Die jüdische Tradition zeichnet also das Bild eines Gottes, der alles andere als vollkommen in sich ruhend und sich selbst genügend in dem Sinn ist, wie er uns in der rationalistischen- philosophischen Deutung des Monotheismus geschildert wird. Bereits die Erschaffung der Welt, mit der die Tora eröffnet wird, insbesondere die Erschaffung eines Menschen in seinem Ebenbild , d.h. frei mit schöpferischen und intellektuellen Kräften ausgestattet , verweist gemäss der Auffassung der Rabbinen darauf, dass Gott ein Teil der Erschaffens der Welt auf den Menschen  übertragt, dass er diesen zu seinem Partner macht.
Einen der in der Bibel verwendeten Gottesnamen, der Name Schaddai, deuten die Weisen des Talmuds sogar im Sinne einer Selbstgenügsamkeit Gottes. Eine Art Machtverzicht.
Üblicherweise als der allmächtige Gott übersetzt, deuten die Rabbinen den Namen Schaddai – als die Zurückhaltung Gottes: Scha-dai (Dai heisst auf hebräisch genug): Schaddai: der seiner Welt gesagt hat: „genug“! Genug der Expansion des Göttlichen in der Welt. Notwendigkeit dem Menschen Platz einzuräumen. Erst dadurch entsteht ein Verhältnis zwischen Gott und Mensch, das als Bund, einer Partnerschaft verstanden wird in der nicht nur der Mensch von Gott abhängig ist, sondern auch das Wirken und Erscheinen Gottes in der Welt vom Tun des Menschen mitbedingt ist.
Dieses Tun, das das Erscheinen Gottes in der Welt ermöglichen soll, ist das Erfüllen der Tora und ihrer Gebote, die Gott am Berg Sinai offenbart hat und deren Empfang durch das Volk Israel gemäss einer Talmudstelle im Traktat Schabbat 88b über den Erhalt der Welt oder deren Rückkehr zum Chaos entscheidend ist. Das Bestehen der Welt und ihre Vervollkommnung erst recht hängt vom Handeln der Menschen ab, ihrer Bereitschaft, eine Ordnung zu anerkennen, die ihnen unverfügbar bleibt, einer Gegebenheit, die die jüdische Tradition mit der Formulierung „Tora Min Haschamajm“ Lehre /Gesetz vom Himmel umschreibt.
Die Gottesbeziehung, ist im Judentum nicht loszulösen von der Idee einer Verantwortung des Menschen für sein Tun, gewiss nicht nur im individualistischen Verständnis für sich selbst, sondern für die ganze Schöpfung und für Gott. Eine Verantwortung, auf die ihn die Tora immer wieder zurückwirft, auf  die sie ihn immer wieder verweist. Gerade in der Mystik in der die Suche nach einer intimen persönlichen Beziehung zu Gott(Dweikut) eine zentrale Rolle spielt, wird dieser Gedanke der Verantwortung für den Nächsten, die Gemeinschaft, immer wieder betont
Diese Verantwortung des Menschen für die Welt, die nach ihm kommt, dehnt die Mystik des Judentums aus auf ein mögliches Wirken in Gott selbst, beziehungsweise in seine Wirkkräfte.

Ansätze dieser Idee, die die Kabbalisten systematisch weiterentwickelt haben, finden sich bereits im rabbinischen Denken verankert. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen.
In den Klagelieder 1,6 heisst es …und sie(die Fürsten) fliehen ohnmächtig vor dem Verfolger.
Damit meint der biblische Text gewiss die irdischen Fürsten
Mit diese Fürsten – meint der Midrasch Eicha Rabba  44,1 jedoch  die himmlischen, göttlichen Fürsten, also Kräfte und legt den Vers deshalb wie folgt aus: Rabbi Azaria sagte im Namen Rabbi Jehudas, Sohn des Rabbi Schimons: „Wenn die Israeliten den Willen des Ortes – eines der Namen für Gott in der rabbinischen Literatur – tun, so steigern sie die Kraft der oberen Mächte, wie es in Psalm 60,16 heisst: „Mit Gott werden wir mächtiges tun.“
Mit Gott- im hebräischen Originaltext lesen wir „Baschem“ – was auch die Übersetzung „in Gott“ zulässt. Die Kinder Israels können die Kraft der oberen Mächte steigern, wenn sie den Willen des Ortes tun, also wenn sie „in ihm“ tun, -gemeint ist in seinen Eigenschaften.- Tun sie es jedoch nicht, so schwächen sie „die grosse Kraft der oberen Mächte“.
Anders formuliert: Mit ihren Taten wirken die Menschen in das Wirken des Einen Gottes ein, von dem vorausgesetzt wird, dass er lebendig also dynamisch, vielschichtig, Gegensätze in sich birgt.
Der Mensch steht also gemäss einer Auffassung, die in der rabbinischen Literatur prominent vertreten ist, dem lebendigen, sich in der Schöpfung offenbarenden Gott nicht ohnmächtig gegenüber. Er kann mittels der Tora und ihrer Praxis ihn erkennen und auf sein Wirken einwirken. Dies ist der Anknüpfungspunkt, den die Mystik der Kabbala, in ihren verschiedenen Ausprägungen vom 12. Jahrhundert bis heute aufgreift und entfaltet.
(Selbstverständlich, wie könnte es im Rahmen talmudischer Dialektik anders sein, gibt es
unter den Gelehrten, den Rabbinnen, auch andere Auffassungen)

 

An diesen Punkt angelangt, können wir nun auf die spezifisch kabbalistischen Akzente dieses dynamischen Gottesbildes der jüdischen Tradition eingehen.
Das Gottesbild der jüdischen Mystik bezieht sich keineswegs auf das Wesen Gottes selbst. Peinlich genau hält sich die Kabbala diesbezüglich an das kardinale biblische Bilderverbot.
Sie unterscheidet zwischen dem unfassbaren, unerkennbaren, transzendenten Gott, (Ein Sof von dem auch die Tora nichts weiss und dem Göttlichen Handeln in der Welt, seiner Immanenz,(Sefirot) die dem Menschen zugänglich ist
Der Mensch ist unfähig das Wesen Gottes zu erkennen, etwas darüber auszusagen, es zu fassen. Diese Tatsache, findet in der jüdischen Tradition ihren Ausdruck im Verbot den Namen Gottes auszusprechen. Dass der Mensch, Gott nicht festhalten kann, sein Wesen nicht definieren kann, sondern ihn erst an seinen Taten zu erkennen vermag, bezeugt bereits der Bibelvers (z.B. Moses 33,18-20): und er (Mose) sprach: Lass mich doch sehen Deine Herrlichkeit. Und Er (Gott) sprach: Ich werde vorüberführen all Meine Güte an deinem Angesicht, und werde vor dir rufen beim Namen: Ewiger, und wie ich begnadige, den ich begnadige, und wie ich mich erbarme, wessen ich mich erbarme. Und sprach weiter: Du vermagst nicht Mein Angesicht zu schauen, denn mich schaut kein Mensch und bleibt leben und der Ewige sprach: Siehe, da ist ein Ort bei Mir, da stelle dich auf den Felsen; und es wird geschehen, wenn meine Herrlichkeit vorbeizieht, so stelle dich in die Felsenkluft, und werde Meine Hand über dich decken, dass Ich vorübergegangen. Dann will Ich Meine Hand wegtun und du siehst Meinen Rücken; aber mein Angesicht kann nicht gesehen werden.“ „
Von vorne sehen“ könnte bedeuten Gott in seinem Wesen zu schauen, was selbst Moses vorenthalten bleibt. Seinen Rücken zu sehen, heisst sein Wirken im Nachhinein, seine Spur, wenn es schon gewirkt hat, erkennen zu können. Die Gottesnamen in der Bibel, El-Elohim-Schaddaj und weitere insbesondere der 4 Buchstabige Name JHWH der nicht ausgesprochen wird, beziehen, sich ausschliesslich auf Gottes Wirken, niemals aber auf dessen Wesen.
 Die Einsicht, dass das Wesen Gottes nirgendwo auch nicht in der Sprache abgebildet werden könne, wird in der Kabbala radikalisiert. Das Wesen Gottes kann von nichts Begrenztem gefasst werden. Von keiner Sprache, keinem Bild, keinem Tun, keinem Ritus, keinem Buch. Gott als er Selbst ist weder Stoff noch Geist, weder endlich noch unendlich, weder Mann noch Frau.
Dieser Fakt des Nicht-Wissens drückt die kabbalistische Sprache zunächst mit dem Wort „Ajn“ Nichts aus, dann immer öfters mit dem von ihr geschaffenen hebräischen Ausdruck:
 ein sof „Ein“ steht für „nicht“, „nicht vorhanden“ und auch für „nichts“. Ein Sof ist aus diesem Wort der Verneinung und dem Wort Sof (Ende, Schluss) gebildet, bedeutet also „nicht vorhanden sein eines Endes“.
Das Ejn Sof, „ohne Ende!“ ist kein verzweifelter Aufschrei von Menschen, die merken, dass und wie ihr Denken erlischt, wenn es um Gott geht. Aus kabbalistischer Sicht signalisiert das Ejn Sof „ohne Ende“ vielmehr das glückliche Einverständnis mit dem Gott, der sich selbst – sein Gott sein verhüllt hat – und verhüllt, indem Er – sein Schöpfertum- enthüllt hat und enthüllt. Die Gottheit erschuf und erschafft, indem sie sich selbst zurückzieht, einschränkt, zurückhält
. Im 16. Jahrhundert verdichtete Rabbi Isaak Luria (Haari hakadosch), der vielleicht genialste Kabbalist überhaupt diese Auffassung in einer Schöpfungstheorie in deren Mittelpunkt der Begriff des Zimzum steht, des Rückzug Gottes, ohne den die Existenz eines anderen Wesens neben und mit ihm undenkbar ist, wenn man mit den Mystiken überhaupt und den Kabbalisten insbesondere davon ausgeht, dass Gott alles in allem ist, den ganzen Raum sozusagen erfüllt. Dieser Rückzug oder wenn sie wollen diese Kontraktion wird auch als sich verkleiden sich verbergen der Gottheit verstanden, da die für die Mystik zentrale Vorstellung der Immanenz und diejenige der vollkommenen Abwesenheit Gottes sich gegenseitig ausschliessen. Dieses sich verbergen der Gottheit ist Ihre Enthüllung als Schöpfer der Welt. Diese Enthüllung in Form von Schöpfung verstand Jizhak Luria nicht als einen harmonischen sondern als einen komplexen schmerzhaften Prozess, ja eigentlich als eine innergöttliche Katastrophe, die sich in der Unvollkommenheit, den Brüchen unserer Welt widerspiegelt: im Exil des jüdischen Volkes, im Leiden der Menschen im Exil d.h der Entfremdung des Menschen von sich selbst.
Diese Enthüllung Gottes, diese Schöpfung geschieht ständig und die göttlichen Kräfte die an diesem Geschehen beteiligt sind, bezeichnet die Kabbala als „Gefässe“, „Röhren“, „Gewänder“ oder „Lichter“. Sie gelten als die Kanäle durch die das Göttliche fliesst, als die Medien-10 an der Zahl- der Selbstmitteilung Gottes, als Seine Erscheinungs- und Wirkweisen, in denen und durch die er handelt. Besonders in der klassischen Kabbala des 12. und des 13. Jahrhunderts beschreiben diese Wirkkräfte das Leben der Gottheit, das sich in allen Dimensionen des Lebens manifestiert. Der bekannteste Begriff für diesen offenbaren Aspekt Gottes, für sein sichtbares, nachvollziehbares Wirken in allen Dimensionen der Wirklichkeit ist Sefira. Dieses Wort stammt aus der hebräischen Wurzel S,F,R deren einfachste Form safar „zählen“ bedeutet. Es ist mit viele anderen Worten aus dieser Wurzel verwandt: zum Beispiel mit Sipper (erzählten) Sippur Erzählung Sefer Buch Sefar (Grenze, Rand). Die Sefirot so könnte man sagen, sind die aus unserer Perspektive betrachtet begrenzten Dimensionen Gottes, die uns etwas vom Wirken von Ein-Sof mitteilen.
Die Sefirot bilden einen grundlegenden, alles Geschaffene umfassenden Geschehenszusammenhang. Man kann ihn als den von „oben“ vom Ursprung ausgehenden Lebensprozess sehen, der erst „unten“ in einer „Welt“ mit all ihren geistigen und materiellen Dimensionen sein Potential voll entfaltet und ganz zum tragen kommt und - wenn er nicht blockiert wird - aus dieser Welt heraus und von ihr gestärkt wieder nach „oben“ zurück schwingt. Jede Wirkweise des Schöpfers hat in diesem Vorgang ihren Platz und ihre Aufgabe. Diese zehn Sefirot sind keine Geschöpfe, sondern der im Vollzug seines Schlaffens begriffene Schöpfer selbst. Ajn Sof ist es, der in und durch alle Sefirot wirkt, sie sind ungetrennt von ihm, er ist deren Wurzel und er nährt sie. Ein Sof und die Sefirot sind eins. Sie bilden eine Einheit, die alles durchdringt.
Daher auch das Bild vom umgekehrten Baum – umgekehrt- weil seine Wurzeln sich oben so zusagen im Himmel befinden, Ein Bild, das sowohl die Einheit des Prozesses, als auch den Unterschied zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen besonders gut wiedergibt. Die zehn Sefirot sind die Äste des Baumes, sein Stamm wächst durch alle Welten hindurch und hält sie zusammen und Ejn Sof - die verborgene Gottheit - ist die Wurzel und der im Baum kreisende Saft.
 Das weit verzweigte sich ständig wandelnde und wachsende Ganze bildet also eine organische, dynamische, aber auch insbesondere in der späteren Kabbala ab dem 16. Jahrhundert eine zutiefst unruhige, ja gebrochene Einheit. Gebrochen deshalb, weil die göttlichen Wirkkräfte, zum Beispiel die Liebe und die strenge Gerechtigkeit, die so genannt männlichen und die so genannt weiblichen Kräften infolge des Bruches, der mit der Schöpfung einher geht nicht im Gleichgewicht, nicht integriert sind. In Gott nicht, im Kosmos nicht und ganz besonders im Menschen nicht, der im Ebenbild erschaffen ist.
Diesen Bruch zu heilen, das göttliche Leben in seiner Einheit und Ganzheit zu restituieren
ist die Aufgabe des Menschen, der sich die Mekubalim, die Kabbalisten verschrieben haben.
Sie nennen diese für die Dauer der Zeit geltende Aufgabe Jichud, Einung. Damit meinen sie die Einung der göttlichen Kräfte in und durch den Menschen mittels seines Handelns, seines Betens und Meditierens und seines Umgangs mit den Mitmenschen, seines Erbarmens für die Geschöpfe. Dieser Jichud, Einung, die eine Einung in Gott selbst ist, bewirkt seinen Tikkun, die Widerherstellung seiner Ganzheit und dadurch erst den Tikkun Olam bemalchut Schaddai, die Wiederherstellung der Welt im Reich des Allernährenden Gottes“, die Herstellung des Reiches indem Gerechtigkeit und Frieden herrscht.
Zusammenfassend betrachtet lässt sich sagen, dass das Gottesbild in der jüdischen Mystik an Dasjenige der Bibel und des Talmuds anknüpft. Es ist ein durchaus dynamisches Bild. Der Gott, der in der Kabbala beschrieben wird ist kein Wesen im traditionell philosophischen Sinn.
Gott zeigt  sich dem Kabbalisten als eine vielfältig wirkende Mächtigkeit.. Eine Vielfalt, die die in unserer Wirklichkeit als widersprüchlich erscheint. Die göttlichen Wirkkräfte sind weder in uns noch in der Welt im Gleichgewicht, aber auch im Leben Gottes selbst gibt es Ungleichgewicht, Zerrissenheit.
Es ist Aufgabe des Menschen, den durch den Schöpfungsakt selbst entstandenen Bruch und damit des Gleichwichts der göttlichen Kräfte wiederherzustellen und damit an der Erhaltung der Schöpfung selbst zu arbeiten. In der Wahrnehmung dieser kosmischen Verantwortung für Gott liegt für den jüdischen Mystiker der Sinn einer Existenz die das individuelle Leben übersteigt.