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Albrecht Grözinger

Plädoyer für die Sinnenfreude – Gedanken zu einer oft vergessenen biblischen Spur

Überblick:

Umstrittene Sinnenfreude - Bilder aus der Kulturgeschichte
•  Herakles am Scheideweg
•  Prophecy Rock
•  Der breite und der schmale Weg
•  Die Pfaffenkirmes •  Die wahre Religion Christi
•  Le portrait de la vraie religion

Die Verachtung der Sinnenfreude - Religions- und kulturgeschichtliche Spuren
•  Der Fluch des Ackers
•  Die Aufwertung der Arbeit durch die Reformation
•  Der Nachhall in der Soziologie unserer Tage Lob der Sinnenfreude - Biblische Spuren
•  Bedürfnisorientierung (Lukas, 18,35-43)
•  Die Schönheit der Natur (Matthäus 6,26-29)
•  Die vergessene Apostolin der Sinnlichkeit (Markus 14,3-9)

Bilder von Gott
•  Gott der "ganz Andere"
•  Gott als Richter
•  Der Gott der Fülle

 

In der Geschichte der Religionen treffen wir verbreitet auf das Motiv der zwei Wege. Menschen gelangen in ihrer Lebensgeschichte an eine Wegkreuzung, an der sie sich entscheiden müssen, welchen Weg sie gehen wollen.

So kennt die griechische Antike den Mythos von Herakles am Scheideweg.

 

 

Zwei Frauen erscheinen dem Herakles, die ihn je auf den von ihnen gewiesenen Weg locken wollen. Die in schlichtem Weiß gekleidete Frau links wird "Arete" (Tugend) genannt und wirkt ganz und gar züchtig und tugendhaft. Die andere Frau, die Herakles auf ihren Weg locken möchte, wird von ihren Freunden als "Eudaimonia" (Glückseligkeit) genannt, von ihren Feinden dagegen als "Kakia" (Schlechtigkeit) gerufen. Diese zweite Frau ist grell geschminkt, betont aufreizend gekleidet und mit Schmuck behängt. Da Herakles ein tugendhafter Held ist, so erzählt die Sage, wählt er - immerhin nach langem Zögern - den Weg, den ihn die tugendhafte Arete weist.

Dasselbe Motiv der zwei Wege begegnet uns auch bei den Hopi-Indianern, die im nördlichen Arizona in der Nähe des Grand Canyon leben.

Auf einem Felsen, der den Namen Prophecy Rock (Fels der Prophezeiung) trägt, findet sich eine Darstellung auf der zwei Wege dargestellt Sind. Der eine Weg verläuft geradlinig, der andere Weg mündet in zwei ins Nichts verlaufende Zickzacklinien aus. Der Hopi-Lebensweg, der spirituelle "Weg des großen Geistes" ist der gerade Weg, während der in Nichts führende Zickzackweg den materialistische geprägten Weg des weißen Mannes darstellt.

Auch in der Frömmigkeitsgeschichte des Christentums begegnen wir dem Motiv der zwei Wege. In meiner pietistisch geprägten württembergischen Heimat konnte ich noch in vielen Wohnungen ein Bild mit dem Titel "Der breite und der schmale Weg" betrachten. Dieses Bildmotiv existierte in vielen Variationen und war auch im Basler Raum weit verbreitet. Das Motiv des breiten und des schmalen Weges geht zurück auf eine Passage der Bergpredigt Jesu in Matthäus 7,13-14:

"Geht durch das enge Tor ein!
Denn das Tor ist weit
Und der Weg ist breit,
der ins Verderben führt,
und viele sind es, die durch es hineinkommen!
Wie eng ist das Tor

Und wie mühselig der Weg,
der ins Leben führt,
und wenige sind es,
die es finden!"
Hier zunächst einige Variationen des Bildes

[Bilder]

Interessant sind diese Bilder darin, wie sie den schmalen und den breiten Weg jeweils ethisch konkretisieren. Man kann diese Bilder   durchaus als Dokument einer Beurteilung von zwei verschiedenen Arten und Weisen eines Lebensstils betrachten, eines Lifestyle, wie wir heute sagen würden: Der schmale Weg, der zum ewigen Seelenheil führt, ist steil, karg und mühsam. Stationen dieses Weges sind die Kirche mit der Sonntagsschule, die Zeltmission und die verschiedenen diakonischen Einrichtungen. Einladend und offensichtlich gemächlich verlaufend ist demgegenüber der breite Weg. Dieser Weg, der in die ewige Verdammnis führt, ist gesäumt von allerlei Lustbarkeiten: Theater, Ballsaal, Gasthöfe und Spielcasinos sind die Embleme dieses Weges. In mir als Kind, und wohl nicht nur in mir, hat dieses Bild mit seiner klaren Ästhetik und seiner nicht minder klaren Botschaft, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die Alternative ist hier klar gezeichnet: der Weg der frommen Bescheidung führt ins ewige Leben, der Weg des Luxus und des Müßiggangs führt geradewegs in die ewige Verdammnis.

Allein schon durch seine massenhaft Verbreitung noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein können wir dieses Bild des breiten und des schmalen Weges als ein Ur-Bild protestantischer Frömmigkeit bezeichnen. In diesem Bild ist beispielhaft dargestellt, was der Hauptstrom des Protestantismus sich unter einem gottgefälligen Leben vorgestellt hat.

Nun fallen Bilder nicht einfach von Himmel. Bildmotive haben eine lange Vorgeschichte. Auch dieses Bild mit seiner Kontrastierung von bescheidener Lebensführung und luxuriöser Schwelgerei kann auf eine lange Vorgeschichte zurückblicken. Bereits in den ersten Jahrzehnten der Reformation treffen wir auf all die Motive, die uns dann in dem Bild vom breiten und schmalen Weg wieder begegnen.

Bezeichnenderweise treffen wir das Motiv der Entgegensetzung von gottwohlgefälligem einfachen Lebensstil zum verwerflichen luxuriösen Lebensstil besonders in der protestantischen Polemik gegen den römischen Katholizismus. Die Grundbotschaft lautet: Protestantismus - das ist einfacher Lebensstil; Katholizismus - das ist maßlose luxuriöser Lebenswandel.

Dazu zwei Beispiele aus dem lutherischen Raum.

Aus dem Jahre 1535 stammt ein Holzschnitt von Peter Flötner mit dem Titel "Die Pfaffenkirmes". In der Mitte des Bildes sehen wir einen maßlos vollgefressenen Priester, der von zwei teuflischen Gestalten auf einer ob des Körpergewichts des Priesters beinahe brechenden Sänfte getragen wird. Hinter der Sänfte folgt ein Zug von Frauen: Prostituierte und Frauen mit Gefäßen voll der köstlichsten Speisen.

Künstlerisch ausgefeilter begegnet uns dieselbe Motivwelt in einer Holzschnitt von Lukas Cranach dem Jüngeren aus dem Jahre 1546. Der Holzschnitt trägt den Titel "Unterschied zwischen der wahren Religion Christi und der falschen abgöttischen Kehre des Antichristen". Der Holzschnitt zeichnet den Kontrast scharf durch zwei schroff gegeneinander gesetzte Bildhälften. Auf der rechten Seite, die unverkennbar auf römisch-katholischen Frömmigkeits- und Lebensstil verweist, steht wiederum ein fetter Priester auf der Kanzel und aufwendig gekleidete Menschen mit den Insignien der Macht und des Luxus unter der Kanzel; dem Ablaßhandel geht es nur ums Geldscheffeln. Demgegenüber auf der linken Seite die Kirche und Lebenswelt der Reformation: Martin Luther auf der Kanzel, schlicht gekleidete aufmerksame Menschen unter der Kanzel. Der Tisch ist nicht der Geldtisch des Ablaßhandels, sondern der schlicht gestaltete Abendmahlstisch.

Solche Bildwelten existierten nicht allein im lutherischen, sondern auch im reformierten Raum. Auch hierzu möchte ich Ihnen ein kleines Beispiel präsentieren: Im Jahre 1583 erschienen in Genf die Notenausgabe von "150 Psalmen David" in vier- bis achtstimmigen Tonsätzen von Pascal de l'Estocart. Dieser Druckausgabe   ist ein Anhang beigegeben. In diesem Anhang findet sich ein Holzschnitt mit einem dichterischen Dialog mit dem Titel "Le portrait de la vraie religion" (Portrait der wahren Religion). In dem dieses Bild begleitenden Dialog heißt es:

"Wer bist du denn, sag mir, die so schlecht gekleidet ist und nur ein zerrissenes Kleid trägt?
Ich heiße Religion, aber mach dir keine Sorge, ich bin des allmächtigen Vaters fürstliche Tochter.
Warum kleidest du dich so armselig?
Ich verachte Besitz, Reichtum und auffallenden Schmuck.
Was für ein Buch hältst Du in Deiner Hand?
Das unveränderliche Gesetz des himmlischen Vaters.
Warum sind Deine Brüste nicht wie der Rest Deines Körpers verhüllt?
Dies passt sehr zu mir als Feind(in) der Einengung (Entstirnigkeit) und Freund (in) der Offenheit!
Warm stützt Du Dich auf ein Kreuz?
Weil das Kreuz (Christi) mir Frieden, Ruhe und Tugend vermittelt.
Weshalb hast du zwei Flügel (am Rücken)?
Ich lasse damit die Menschen in himmlische Höhen fliegen.
Warum umgeben so viele Strahlen Dein Gesicht?
Damit verscheuche ich finstere Gedanken aus dem menschlichen Denken.
Was bedeutet dieser Zaum?
Ich lehre die Leidenschaften zu zügeln und zu beherrschen.
Weshalb trittst Du den fahlen Tod unter Deine Füße?
Weil ich den Tod mit dem Tod besiegt habe."

Diese Beispiel erscheint mir deshalb so bedeutsam zu sein, weil es nicht in den Kontext der reformatorischen und antireformatorischen Polemik gehört, die immer die Dinge überzeichnet. Hier haben wir es mit einem differenzierten schweizerisch-reformierten theologischen Dialog zu tun. Um so bedeutsamer, dass auch hier die Motive der Verachtung des Reichtums, des Besitzes und des Schmucks sowie die Zügelung der Leidenschaften auftauchen. Auf ein Detail möchte ich noch besonders hinweisen. In der Regel finden wir in den frühreformatorischen Darstellungen von Frauen keine Darstellungen offen liegender Brüste. Dies ist hier anders. Aber auch die Deutung weist in die von mir benannten Richtung: Die offenen Brüste symbolisieren gerade nicht die Sinnlichkeit, sondern die Freiheit des Geistes.

Ich habe bisher eine wirkungskräftige Traditionslinie zu beschreiben versucht, die wir im Kulturraum des Protestantismus beobachten können. Ausgehend von dem weit verbreiteten pietistisch geprägten Bild der zwei Wege bin ich zurückgegangen in die Ursprünge der Reformation sowohl lutherischer wie reformierter Prägung. Wir konnten dabei beobachten, wie Luxus und Sinnlichkeit theologisch negativ bewertet werden und eine zurückhaltende, primär ethisch motivierte Lebenshaltung gefördert wird. Es war der bedeutende Soziologe Max Weber, der in vielen detaillierten Studien und Untersuchungen gezeigt hat, dass diese protestantische Lebenshaltung an der Wiege dessen stand, was wir die kapitalistisch-industriegesellschaftliche Moderne nennen können. Der Protestantismus wertete gegenüber dem mittelalterlichen Katholizismus die Berufsarbeit auf. Im Mittelalter galt Berufsarbeit als notwendiger Zwang der Lebensfristung. Hier - in der mittelalterlichen katholischen Theologie - sind die Nachklänge aus der biblischen Schöpfungsgeschichte deutlich erkennbar. In 1. Mose 3, 17ff. sagt Gott zum Menschen: "Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst Du Dich von ihm nähren Dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er Dir tragen, und Du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen, bis Du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn Du bist Erde und sollst zu Erde werden." Die Arbeit erscheint in diesen Sätzen als Fluch, als schuldhafte Mühsal, als Konsequenz des menschlichen Sündenfalls. Demgegenüber hat Martin Luther die Arbeit äußerst positiv bewertet. Und die reformierte Tradition ist Luther hier nicht nur gefolgt, sondern hat die Konturen noch kräftiger gezeichnet. Der Welt-Beruf wurde zur göttlichen Berufung. Unsere deutsche Sprache verrät dies noch eindeutig: Beruf kommt von Berufung. Der Beruf ist die von Gott verliehene menschliche Würde. Diese Würde verpflichtet den Menschen seinerseits zum sittlichen Wirken in der Welt. Diese sittliche Wirken schließt den übermäßigen Welt-Genuss aus. Ein Leben in Luxus und ein verschwendersicher Umgang mit Geld ist gottlos und deshalb verboten. Der Mensch ist also in der protestantischen Tradition auf eine höchst ambivalenten Weise der Welt verbunden und zugleich ihr enthoben. Er ist an die Welt verwiesen, indem er sie in seinem Handeln sittlich gestaltet, und er soll zugleich der Welt enthoben sein, indem er den Lüsten und dem Luxus der Welt entsagt. Max Weber hat für diese ambivalente Bindung und Entbindung des Menschen an und von der Welt den treffenden Ausdruck der "innerweltlichen Askese" geprägt. Diese innerweltliche Askese ist - so die These Max Webers - der Glutkern der kapitalistisch-industriellen Moderne. Und Max Weber hat gezeigt, dass dieser protestantische Glutkern der Moderne auch noch am Werk ist, wenn der Protestantismus als Religion seine kulturgestaltende Kraft im Verlauf dieser Moderne allmählich verliert. Max Weber, der ein großer Sprachkünstler war, hat diese innerweltliche Askese eindrücklich beschrieben. Und ich möchte Ihnen einige Sätze dieser Beschreibung nun im wörtlichen Zitat vortragen:

"Die Welt als Ganzes bleibt, asketisch gewertet, eine 'massa perditionis'... Wenn nun dennoch die Bewährung innerhalb ihrer Ordnungen erfolgen soll, so wird sie eben, weil sie unvermeidlich (ein) natürliches Gefäß der Sünde bleibt, gerade um der Sünde willen und zu deren möglichster Bekämpfung in ihren Ordnungen eine 'Aufgabe' für die Bewährung der asketischen Gesinnung. Die (Welt) verharrt in ihrer kreatürlichen Entwertetheit: eine genießende Hingabe an ihre Güter gefährdet die Konzentration auf das Heilsgut und dessen Besitz und wäre Symptom unheiliger Gesinnung und fehlender Wiedergeburt. Aber die Welt ist dennoch, als Schöpfung Gottes, dessen Macht sich in ihr trotz ihrer Kreatürlichkeit auswirkt, das einzige Material, an welcher das eigene religiöse Charisma durch rationales ethisches Handeln sich bewähren muss, um des eigenen Gnadenstandes gewiss zu werden und zu bleiben. Als Gegenstand dieser aktiven Bewährung werden die Ordnungen der Welt für den Asketen, der in sie gestellt ist, zum 'Beruf', den es rational zu 'erfüllen' gilt. Verpönt also ist der Genuss von Reichtum, - 'Beruf' aber die rational ethisch geordnete, in strenger Legalität geführte Wirtschaft, deren Erfolg, also: Erwerb, Gottes Segen für die Arbeit des Frommen und also die Gottgefälligkeit seiner ökonomischen Lebensführung sichtbar macht. Verpönt ist jeder Überschwang des Gefühls für Menschen als Ausdruck einer den alleinigen Wert der göttlichen Heilsgabe verleugnenden Vergötterung des Kreatürlichen, - 'Beruf' aber die rational nüchterne Mitarbeit an den durch Gottes Schöpfung gesetzten sachlichen Zwecken der rationalen Zweckverbände der Welt. Verpönt ist die kreaturvergötternde Erotik, gottgewollter Beruf 'eine nüchterne Kindererzeugung' (wie die Puritaner es ausdrücken) innerhalb der Ehe. Verpönt ist Gewalt des Einzelnen gegen Menschen, aus Leidenschaft oder Rachsucht, überhaupt aus persönlichen Motiven, - gottgewollt aber die rationale Niederhaltung und Züchtigung der Sünde und Widerspenstigkeit im zweckvoll geordneten Staate. Verpönt ist persönlicher weltlicher Machtgenuss als Kreaturvergötterung, - gottgewollt die Herrschaft der rationalen Ordnung des Gesetzes. Der 'innerweltliche Asket' ist ein Rationalist sowohl in dem Sinne rationaler Systematisierung seiner eigenen persönlichen Lebensführung, wie in dem Sinn der Ablehnung alles ethisch Irrationalen, sei es Künstlerischen, sei es persönlich Gefühlsmäßigen, innerhalb der Welt und ihrer Ordnungen. Stets aber bleibt das spezifische Ziel vor allem: 'wache' methodische Beherrschung der eigenen Lebensführung. In erster Linie, aber je nach seinen einzelnen Abschattierungen in verschiedener 'Konsequenz', gehörte der asketische Protestantismus, welcher die Bewährung innerhalb der Ordnungen der Welt als einzigen Erweis der religiösen Qualifikation kannte, diesem Typus der 'innerweltlichen Askese' an."

Ich habe Ihnen deshalb ein so langes Zitat von Max Weber vorgetragen, weil man diesen Worten abspürt, wie sehr Weber vom Gegenstand seiner soziologischen Analyse beeindruckt war. Wir können dies ja immer wieder beobachten, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich ihren jeweiligen Untersuchungsobjekten quasi anverwandeln. Nicht von ungefähr gibt es im Bereich der Literatur viele Geschichten, die erzählen wie etwa Kriminologen plötzlich selbst zum Verbrecher werden, weil sie von ihrem Gegenstand so fasziniert sind. Oder vom berühmten Verhaltensforscher Konrad Lorenz erzählte eine enge Vertraute, dass er plötzlich mitten am Essenstisch die Genusslaute der Graugänse von sich geben konnte. Und bei Max Weber spüren wir auch etwas von einer Faszination, die dieser Geist protestantischer innerweltlicher Askese auf ihn ausstrahlt. Mit guten Gründen hat man Max Weber als den vielleicht protestantischsten Vertreter der modernen Sozialwissenschaften genannt. Und von dieser seiner Faszination hat Max Weber etwas an seine ganze Zunft weitergegeben. Die moderne deutschsprachige Sozialwissenschaft atmet - dies möchte ich als ganz steile These formulieren - etwas vom Geist innerweltlicher protestantischer Askese.

Marianne Gronemeyer ist eine der prominenten Vertreterinnen der zeitgenössischen Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum. Und es ist für mich alles andere als ein Zufall, dass sie nun ein Buch in überarbeiteter Neuauflage mit dem Titel "Die Macht der Bedürfnisse" vorgelegt hat, in dem sie sehr kritisch gegen eine Bedürfnisorientierung argumentiert, weil sie in unseren Bedürfnissen eher eine Manipulation der ökonomisch orientierten Marktgesellschaft sieht als authentischer Ausdruck dessen, was Menschen wollen oder wollen sollten.

Ich möchte Ihnen quasi noch einmal zur Einordnung meiner Überlegungen ein Zitat aus diesem Buch vorlesen. Ein eindrückliches Zitat, wie ich meine: "Nicht nur den Gebrauchsgegenständen gegenüber, sondern auch den Verbrauchsgegenständen gegenüber ist der Konsument ignorant, er kann ihren Nutzen für sich selbst nicht abschätzen, weil der Schaden, den sie mit sich führen, vor ihm geheim gehalten wird und er als bloßer Konsument keinen Zugang zu diesem Geheimwissen hat. So erscheinen sie ihm als seine willfährigen Diener, die ihm die Last des Lebens abnehmen, und er ahnt nicht, dass er für die Errungenschaften teuer bezahlen muss, mit seiner Gesundheit, seiner Unabhängigkeit, seinem Lebensraum, mit der Schönheit der Landschaft, der Reinheit der Luft und des Wassers, mit seinen Fähigkeiten, mit der Bewohnbarkeit der Städte, mit dem Erbe der kommenden Generationen, mit seiner Geselligkeit."

Diese Sätze atmen Max Weber'schen Geist im besten Sinne. Es ist die Ethik des Protestantismus, das Lob der innerweltlichen Askese, das aus diesen Sätzen erklingt.

Vielleicht habe ich Ihnen jetzt eine Frage beantwortet, die Ihnen schon lange auf der Zunge liegt. Mein Vortrag ist unter dem Titel angekündigt "Plädoyer für die Bedürfnisse. Über die Freude der Bibel am Luxus". Gesprochen habe ich aber - und die Hälfte meiner Vortragszeit ist schon um - bis jetzt immer nur vom Gegenteil: Der Kritik am Luxus, der Kritik an den Bedürfnissen, der Kritik am Konsum, kurz: ich habe gesprochen vom Geist der protestantischen innerweltlichen Askese. Ich musste deshalb darüber sprechen, weil dieser Geist gerade auch in vielen Werken der zeitgenössischen Soziologie immer noch quicklebendig ist, Er ist untergründig intensiv am Werk, gerade dort, wo dieser Zusammenhang nicht erkannt wird oder offen zu Tage liegt.

An dieser Stelle möchte ich einen Gegen-Akzent setzen. Ich möchte heute Abend an eine andere Traditionsspur erinnern. Nämlich die biblische Traditionsspur, die die protestantische innerweltliche Askese ständig übersehen hat. In der Bibel gibt es nämlich unverkennbar eine Freude an der Lust und am Luxus. In der Bibel gibt es eine elementare Bedürfnisorientierung und eine kräftige Anerkennung der Tatsache, dass wir Menschen Wesen sind, die Bedürfnisse haben und Bedürfnisse artikulieren. Diese Spur will ich heute Abend stark machen. Und ich zeichne diese Traditionsspur kräftig. Dazu möchte ich Sie auf eine kleine biblische Text-Reise zum Thema Bedürfnisse und Luxus mitnehmen.

Ich beginne mit einer Geschichte zum Thema der menschlichen Bedürfnisse (Lukas 18,35-43):

"Es begab sich aber, als er [sc. Jesus von Nazareth] in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was da wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornan gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, das ich für dich tun soll? Er aber sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen."

Eine Geschichte voll einer dramatischen Dynamik. Ich möchte Sie nur auf zwei Elemente dieser Geschichte aufmerksam machen: Da ruft einer laut, um sein Bedürfnis nach Heilung auszudrücken. Darin wird er gehindert. Von denen "die vornan gingen", wie die Geschichte hintersinnig formuliert. Waren das die Vertreter der innerweltlichen Askese der Antike? Menschen, die sich daran stießen, das hier einer ganz egoistisch, ganz selbstbezogen sein Heilungsbedürfnis hinausschreit. War das unangemessen in Gegenwart der charismatischen religiösen Person Jesu von Nazareth? Nun, wie immer das auch sein mochte, Jesus lässt den Bedürfnisschreier herantreten und stellt ihm eine schlichte Frage: "Was willst Du, dass ich für Dich tun soll?" Jesus setzt hier schlicht voraus, anders als dies eine kulturkritisch orientierte Soziologie heute tut, dass dieser Mann weiß, was sein Bedürfnis ist und was ihm gut tut. Jesus nimmt auch nicht den Gestus eines Menschen ein, der im Grunde immer schon viel besser weiß, was das Gegenüber "eigentlich' braucht. Das bedürfnisorientierte Schreien des Blinden wird von Jesus nicht nur akzeptiert, sondern durch diese Frage sogar noch verstärkt: Sage mir, wessen Du bedarfst? In ihrer Schlichtheit ist diese Geschichte ein starkes Plädoyer für die Bedürfnisse und die Artikulierung menschlicher Bedürfnisse.

Ich mache eine Sprung und wende mich der Bergpredigt im Matthäus-Evangelium Kapitel 5-7 zu. Die Bergpredigt ist eines der ethischen Grunddokumente der abendländischen Geschichte. Hundertfach, tausendfach verraten, gewiss, aber untergründig am Werk bis auf den heutigen Tag. Noch in den Formulierungen der Menschenrechte, wie dies die Französische Revolution und dann noch einmal die UNO versuchte, sind die Grundkoordinaten der Bergpredigt erkennbar. Inmitten dieses ethischen Urgesteins der Menschheitsgeschichte finden sich in Kapitel 6,26-29 die folgenden Sätze:

"Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzten könnte, wie sehr er sich auch sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen."

Inmitten der Magna Charta neutestamentlicher Ethik finden wir diese Sätze, die nun gar nicht ethisch sind. Es wird an die Schönheit der Natur erinnert, die gerade nicht das Werk menschlicher Arbeit ist. Ethik hat mit menschlichem Handeln zu tun. Ethik möchte dem menschlichen Handeln Orientierung geben. Die Bergpredigt unterbricht nun in ihrer Mitte den ethischen Diskurs, um an die Grenze des menschlichen Handelns und damit auch an die Grenze aller Ethik zu erinnern. Bedeutsam ist nun, auf welche Weise die Bergpredigt diese Grenze des menschlichen Handelns markiert. Es hätte sicher auch genügt an die Natur, die Schöpfung an sich zu erinnern. Die Welt und den Kosmos hat der Mensch nicht selbst hervorgebracht. Die Bergpredigt lässt es aber nicht bei diesem argumentativ sicher genügenden Hinweis, sondern spitzt diese Unterbrechung des ethischen Diskurses auf den Hinweis auf die Schönheit der Natur zu. Die Natur müsste nicht schön sein, damit wir Menschen leben. Wir bräuchten Luft zum Atmen, wir bräuchten Nahrung zu essen - das wäre genug zum Leben. Die Bergpredigt belässt es aber nicht bei diesem Genug zum Leben. Die Natur ist über alle Lebensnotwendigkeit hinaus schön. Die Natur enthält diesen alle Lebensnotwendigkeiten transzendierenden Überschuss. Die Schönheit der Natur ist der Luxus, den Gott sich mit seiner Schöpfung geleistet hat. Die protestantische innerweltliche Askese hat ihr Grunddokument in der Bergpredigt - zweifellos. Hier wird das sittliche Handeln in der Welt ethisch grundiert. Aber die protestantische innerweltliche Askese hat penetrant diese - wie ich meine - geheime Mitte der Bergpredigt übersehen - nämlich jenes Lob des luxuriösen Schönheitsüberschusses der Natur, das nicht durch das menschliche Handeln hervorgebracht ist und das nicht durch menschliches Handeln angeeignet werden. Sondern dieser luxuriöse Überschuss ist einfach zu genießen. Die Bergpredigt erinnert nicht nur an den Menschen als sittliches Wesen, sondern sie setzt zugleich den Menschen als genießendes Wesen ins Recht. Immanuel Kant, sicher einer der großen Figuren einer säkularisierten innerweltlichen Askese, hat um diesen Zusammenhang gewusst. In seiner ästhetischen Grundschrift, der "Kritik der Urteilskraft", spricht er vom "interesselosen Wohlgefallen", das uns befällt, wenn wir das Schöne genießend in unser Leben aufnehmen. Und zwar das Schöne als das ganz und gar nicht Notwendige, als den luxuriösen Überschuss des Lebens. Erst so - als sittlich handelnde und als genießende Wesen - werden wir Menschen zu ganzen Menschen. Darin sind sich Immanuel Kant und die Bergpredigt einig.

Ich möchte nun von der Bergpredigt weitergehen zu einem Text, den ich für die Grundlegungs-Geschichte einer neutestamentlichen Freude am Luxus halte (Markus 14,3-9):

"Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas, und goss es auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als zweihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im voraus gesalbt für mein Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat."

Diese Geschichte steht quer und sperrig im Umfeld des protestantischen Mainstreams. Und man merkt den Büchern der Bibelwissenschaftler an, da sie mit dieser Geschichte ihre Mühe haben. Den Vertretern der protestantischen innerweltlichen Askese war diese Geschichte immer etwas unheimlich und peinlich. In dieser Geschichte bricht im Schatten des drohenden Todes Jesu ein fundamentaler Streit um den Umgang mit den Überschüssen des Lebens auf. Das wohlriechende Salb-Öl ist nicht nur Symbol, sondern ganz materiell Ausdruck des menschlichen Reichtums, der auf Überschuss beruht. Noch heute ist ein Parfüm, auch wenn es inzwischen in den Discount-Parfümerien beinahe für alle erschwinglich ist, der Inbegriff eines Luxus-Accessoires. Um wie viel mehr mag dies für eine Mangelgesellschaft gelten, als die Palästina zur Zeit Jesu sicher anzusprechen ist.

Prompt bricht auch der ethische Konflikt auf. Die Vertreter einer innerweltlichen Askese haben das ethische Argument auf ihrer Seite. Wie viel könnte man für die Armen tun, wenn man das Geld nicht an dieses Nardenöl verschwenden würde? Jesus kann dieses Argument auch nicht entkräften. Innerhalb des ethischen Diskurses sind die Kritiker unschlagbar. Deshalb sagt Jesus auch nur: Lasst Sie in Frieden. Und ganz unethisch sagt er dann noch: Arme habt ihr immer um Euch. Für den ethischen Diskurs ein im Grunde unerträgliches Argument, das auf der Fluchtlinie liegt: Kriege wird es immer geben, die Armut schafft ihr nicht aus der Welt, wie sehr ihr euch auch um Gerechtigkeit bemüht, etc. Jesus wusste, dass er im ethischen Diskurs schlicht unterliegen musste. Deshalb wechselt er die Argumentationsebene. Er sagt: Lasst Sie. Es tut mir gut.

Und dann am Schluss der Geschichte jener unerhörte und in vielen Predigten mit Nichtbeachtung übergangene Satz: "Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat." Im Grunde wird an dieser Stelle die Frau von Jesus zur Apostelin eingesetzt. Denn das war die Aufgabe der Apostel: Die Reinheit und den Erhalt des Evangeliums über die Zeiten hinweg zu sichern. Das Evangelium wird von Jesus an dieser Stelle untrennbar mit dieser verschwenderischen Tat der Frau verbunden. Und deshalb ist und bleibt diese Frau eine doch merkwürdige Apostelin. Sie ist die Apostelin der Verschwendung, die Apostelin des Luxus. Als eine solche verdächtige Figur wandert diese Frau seit diesen Geschehnissen durch die Theologiegeschichte und die christliche Ikonographie. Sie steht in der Regel am Rande, wie ein Bild in der Kathedrale zu Chartres beispielhaft zeigt. Die Vertreter der innerweltlichen Askese haben, den ausdrücklichen Worten Jesu zum Trotz, einen nachträglichen Sieg über diese Frau davongetragen.

Ich gehe nun noch einen Schritt weiter. Ich habe bisher über Texte gesprochen, die die Frage der Bedürfnisse und des Luxus im Zusammenhang des menschlichen Handelns stellen. Also im Zusammenhang der Ethik und der Anthropologie. Ich möchte nun gerne zeigen, dass die Frage nach dem Luxus auch im ganz engen Sinn für die Theo logie, also der Aussagen über Gott, von Bedeutung ist.

Wir Menschen müssen, wenn wir über Gott sprechen wollen, in Geschichten, Bildern und Symbolen sprechen. Über Gott kann man offensichtlich nicht so sprechen, wie wir über unseren Kontostand bei der Bank sprechen oder wenn wir jemanden den Weg zum Bahnhof beschreiben. Die Realität, die wir Gott nennen, lässt sich sprachlich offensichtlich weder mit der Sprache des Alltags noch mit der Sprache der Geschäftswelt noch mit der Sprache der Wissenschaft sachgerecht benennen. So wie wir ganz unwillkürlich spüren und dies dann auch tun, das etwa eine Liebeserklärung an einen geliebten Menschen einer besonderen Sprache bedarf, so bedarf auch unser Sprechen von Gott eine ganz bestimmte Ebene der Sprache. Und diese Sprache ist die Sprache der Geschichten, Bilder und Symbole. Deshalb ist die Bibel ach voll von solchen Gottes-Geschichten, Gottes-Bildern und Gottes-Symbolen.

Etwas grob gesprochen, können wir in der Bibel drei große Gruppen von solchen Geschichten, Bildern und Symbolen erkennen.

Die erste Gruppe drückt den Unterschied zwischen Gott und den Menschen aus. Gott ist der Heilige, dem man sich nur mit Vorsicht nahen darf. Er kann von uns nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen werden, denn wer Gott ins Angesicht blickt, stirbt. Jochen Klepper hat diese Sprach-Gruppe biblischer Gottes-Rede seinerseits in einem eindrücklichen Bild so zusammengefasst:

"Gott wohnt in einem Lichte, dem keiner nahen kann.
Von seinem Angesichte trennt uns der Sünde Bann.
Unsterblich und gewaltig ist unser Gott allein,
will König tausendfaltig, Herr aller Herren sein."

Die zweite Sprache-Gruppe biblischer Gottes-Rede benennt Gott als den Richter über die einzelnen Menschen und die Menschheit insgesamt. Im 1. Kapitel der Offenbarung des Johannes ist diese Dimension Gottes in Bildrede so gefasst: "Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen; und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht." (Offenbarung 1, 14-16).

Allerdings ist mit diesen zwei Dimensionen - der Transzendenz und der richtenden Macht - das, was Menschen mit dem biblischen Gott erfahren haben, noch nicht hinreichend beschrieben. Ja - es fehlt die wichtigste Dimension: nämlich die Geschichten, Bilder und Symbole, die von dem Gott sprechen, der sich uns Menschen naht und zuwendet. Und hier fällt auf, dass die Bibel, wenn sie von dieser Dimension Gottes, spricht in Geschichten, Bildern und Symbolen des Luxus geradezu schwelgt.

Der Psalm 23, der - wenn man so wie - biblischen Ur-Rede von Gott, ist voller Bilder der überschwänglichen Fülle:

"Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln
Er weidet mich auf einer gründen Aue
Und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquickt meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstren Tal
Fürchte ich kein Unglück,
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch
Im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl
Und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mit folgen mein Leben lang
Und ich werde bleibe im Haus des Herrn immerdar."

Im Gleichnis vom verlorenen Sohn schlachtet der Vater ein gemästetes Kalb, schenkt ihm ein schönes Gewand und gibt ein rauschendes Fest. Dies alles ist in einer Mangelgesellschaft ein ganz unerhörtes Luxus.

Der reich gedeckte Tisch und das festliche Zusammensein ist aber auch in unseren reichen Gesellschaften Mitteleuropas immer noch ein Zeichen des Überflusses, der die Notwendigkeiten des Alltags übersteigt. Im Wirken Jesu von Nazareth ist diese Erfahrung offensichtlich auf ganz eigentümliche Weise am Werk gewesen. Immer wieder wird erzählt, wie Jesus bei den gemeinsamen Mahlzeiten, den Menschen eine neue Hoffung gab. Und in einem seiner eindrücklichsten Gleichnisse wird die üppig-luxuriöse Hochzeitsfeier, zu der gerade die Armen und Verachteten eingeladen sind, zum großen Bild für die Nähe Gottes bei den Menschen am Ende unserer Weltzeit. Der Neutestamentler Jürgen Becker hat diese eigentümliche Wirkung der Gastmähler Jesu in karger Landschaft mit folgenden Sätzen zu beschreiben versucht: Jesus machte bei diesen Mählern "ihre Sorgen zu Gottes Sorgen. Er stellte ihr karges Leben unter den Glanz der ankommenden Gottesherrschaft. Sie waren es nun unerwarteterweise, die Adressaten dieser Botschaft wurden, nicht die großen Leute. So erhielt der Alltag einen Adel, demgegenüber sie sonst immer nur abseits standen."

Für mich ist es alles andere als ein Zufall, dass die Bibel in Bildern des Überflusses und Luxus spricht, wenn sie von dem Gott spricht, der uns Menschen nah ist. Denn in dieser Erfahrung des nahen Gottes, geht es um den Überschuss des Lebens, den das Leben nicht aus sich selbst heraus freisetzt. Dieser Überschuss des Lebens kommt aus der Hand Gottes selbst. Es geht um den Tisch des Lebens, an den wir uns nur zu setzen brauchen, und den wir selbst nicht zu decken brauchen und wohl auch gar nicht so üppig decken könnten. Wer von Gott reden will, darf von diesem Luxus nicht schweigen.

Und deshalb hat die protestantische Traditionslinie der innerweltlichen Askese das Eigentliche der biblischen Gottesrede und der biblischen Gotteserfahrung im Grunde übersehen.

Im Grunde ist dort, wo wie in der Traditionslinie der protestantischen innerweltlichen Askese der Luxus negativ bewertet wird, nichts anderes als ein Unglück der Verwechslung passiert. Die Bibel kritisiert nirgendwo den Luxus an sich. Sie kritisiert allerdings mit kräftiger Stimme, das in unserer Welt der Luxus nur wenigen vorbehalten ist. Wenn es in den Seligpreisungen der lukanischen Feldpredigt, dem kleinen Geschwisterchen der berühmteren matthäischen Bergpredigt   heißt "Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer", so wird damit nicht die Armut gepriesen. Dies wäre im Grunde eine inhumane Ungeheuerlichkeit. Sondern Jesus sagt: "Ihr Armen, die ihr sonst von allen verachtet seid, euch, gerade euch gehört das Reich Gottes, jenes Reich, das den Überschuss des Lebens mit sich bringt." Im Grunde enthält gerade die Seligpreisung der Armen die Verheißung des Luxus für alle. Die Bibel hat kein Problem mit dem Luxus, aber sie stellt unerbittlich die Frage, wem der Luxus gehört, und sie stellt damit die Frage nach der Gerechtigkeit. Diese Frage nach der Gerechtigkeit ist aber dort am dringlichsten gestellt - und mit dieser These möchte ich schließen, wo der Luxus nicht verachtet wird, sondern wo er geliebt, gepriesen und genossen wird.

Vgl. dazu ausführlich: Udo Tworuschka, Heilige Wege. Die Reise zu Gott in den Religionen, Frankfurt 2002, bes. S.44-49.

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1980, S. 329f.

Marianne Gronemeyer, Die Macht der Bedürfnisse. Überfluß und Knappheit, Darmstadt 2002, S.182f.

Jürgen Becker, Jesus von Nazareth, Tübingen 1996, S.211.