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«Ich war tot». Das Zeugnis der Nahtoderfahrungen.Günter Ewald Wenn wir von „Nahtoderfahrungen“ sprechen, dann sind nicht allgemein Erlebnisse im Sterbeprozess gemeint, sondern eine Gruppe von Extremerfahrungen, die in verschiedener Hinsicht zum Nachdenken Anlass geben. Sie vollziehen sich zwar vielfach in wirklicher oder psychologischer Todesnähe, oft aber auch in Tiefenmeditation, bei autogenem Training, in einen Traum eingebettet oder unerwartet mitten im Alltag. Es handelt sich um ein „gesundes“ Phänomen, auch wenn es Bezug zum Tod hat. Seit Moody 1975 mit seinem Weltbestseller „Leben nach dem Tod“ (in dem er auch den Begriff „Nahtoderfahrung“ einführte) eine breite Öffentlichkeit auf dieses Phänomen hinwies, haben sich Medizin und auch Theologie nur sehr zögerlich dem Thema wissenschaftlich genähert. Zuerst aber stellen wir die Frage nach Beispielen und Begriff dessen, wovon wir reden. Wir können das natürlich nur umrisshaft beantworten.
Einige Beispiele (vgl. dazu 30 Beispiele in meinem Beitrag „Nahtoderfahrungen – Hinweise auf ein Leben nach dem Tod?“ Topos plus 2009). Sabine M. aus Hessen hatte im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung eine intensive Nahtoderfahrung. Sie berichtet von einem Schwebeerlebnis: „Ich hatte keinerlei Schmerzen mehr und fühlte mich da oben schwebend sehr wohl, denn ich war umhüllt von einem Licht, wie ich es bis dahin noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Dieses Licht war noch schöner als ein Sonnenaufgang oder ähnliches. Ich konnte die einzelnen Teile des Lichtes sehen, ja ich hatte den Eindruck, selbst Licht zu sein.“ Alois S., damals Berufsoffizier, hatte bei einer Herzkatheteruntersuchung mehrfach Herzstillstand und damit verbunden außerkörperliche Erlebnisse. Von einem erzählt er: Beim Ausstieg aus meinem Körper hatte ich den Eindruck, den Körper wie einen Mantel abzulegen. Das Bild werde ich nie vergessen. Es hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Dieses Ablegen des ‚alten’, irdischen Körpers war ungeheuer befreiend“. Im Laufe des Erlebens merkte er sich auch „… ein Detail eines medizinischen Gerätes, nämlich eine Art Typenschild“. Später wurde ihm durch Arzt und Krankenschwester bestätigt, dass er sich die Beschriftung richtig gemerkt hatte, obwohl sie vom OP-Tisch aus nicht einzusehen war. Wir fügen eine Erfahrung hinzu, bei der das Panorama-Erlebnis im Vordergrund steht. Sie stammt von dem bedeutenden Geologen und Alpenforscher Professor Albert Heim und ist im Jahrbuch des Schweizerischen Alpenclubs von 1891/92 erschienen. Heim berichtet:
------------------------ Wie sind nun diese außerordentlichen Erlebnisse zu verstehen und welche Relevanz haben sie? Wir unterscheiden drei Deutungsebenen, die natürlich eng miteinander zusammenhängen: Was die unterste Ebene angeht, so hat man erwartungsgemäß in vielfältiger Weise versucht, mit Hilfe von Neurobiologie und Psychiatrie eine natürliche Erklärung für die genannten Grenzerfahrungen zu finden. Das ist ein weites Gebiet, und es ist viel Richtiges gesagt worden; schließlich sind Erlebnisse aus dem Leben im Spiel und haben diese mit unsrem Gehirn und der Psyche zu tun. Aber schon hier zeichnen sich Grenzen der Erklärung ab. So sagt beispielsweise eine Theorie, dass das Tunnel-Licht-Erlebnis durch Sauerstoffmangel im Gehirn bedingt sei. Im sterbenden Gehirn setzen neuronale Aktivitäten ein, die zu einem scheinbar sich vergrößernden Licht führen und so den Tunneleffekt erzeugen. – Hierzu ist zu bemerken, dass viele Nahtoderlebnisse bei völliger Gesundheit stattfinden, in ihnen aber dieselben Phänomene auftreten. Ferner sind mit einem rein optischen Effekt nicht die mystischen Qualitäten des Lichts in Nahtodvisionen zu deuten. Ein anderes Argument besagt, durch den Stress eines Unfalls oder einer Operation werden Endorphine und Enkephaline im Gehirn ausgeschüttet, auch Gückshormone genannt. Diese erzeugen dann die euphorischen Gefühle, wie man das von Langstreckenläufern nach etwa 20 km kennt. – Dazu ist zu sagen, dass man Auslösen und eines Ereignisses nicht mit dessen Inhalt verwechseln darf. Wenn ich eine Musikanlage einschalte, musiziere ich noch lange nicht. Ein äußerer Reiz, etwa ein Verkehrsunfall, kann durch direkte mechanische Reizung des Gehirns oder über die Zwischenstationen der Endorphine und durch sie bewirkte neuronale Prozesse die Tür zu einem Nahtoderlebnis aufstoßen, sie muss es aber nicht. Offenbar ist etwas in uns verborgen, eine Art Schatzkammer, die durch ganz verschiedenartige Reize geöffnet oder teilweise geöffnet werden kann. Was man aber in der Schatzkammer sieht, ist durch das Öffnen selbst nicht zu verstehen. Nahtoderlebnisse sind auch nicht mit autoskopischen Halluzinationen (Doppelgänger-Phänomen) oder überhaupt Halluzinationen mit ihren verworrenen, unrealistischen, schnell wieder vergessenen Visionen zu verwechseln. Nahtoderfahrungen zeichnen sich durch klar strukturierte, als real empfundene und präzise erinnerte Vorgänge aus. Um dem tieferen Gehalt der Nahtoderlebnisse näher zu kommen, betreten wir die zweite Erklärungsebene und skizzieren zunächst wie angekündigt die Studie des holländischen Kardiologen van Lommel. Dieser hat, Es bleibt nur ein Schluss: Außerkörperliche Wahrnehmung ist medizinisch real, und das bedeutet ein Ende des klassisch-medizinischen Bildes vom Menschen, nach dem Derlei nicht existiert. Etwas im Menschen, van Lommel nennt es nichtlokales Bewusstsein, vermag sich vom Körper zu lösen. Es ist seiner selbst bewusst, kann wahrnehmen, denken, fühlen, aber nicht physisch auf den da liegenden Körper oder die anderen Personen einwirken oder mit Personen kommunizieren. Offen ist natürlich, wie es auf den Körper und dessen Gehirn bezogen ist und ob es bei dessen Tod weiter existieren kann. Mit diesen Feststellungen wird ein Tabu des herkömmlichen naturwissenschaftlichen Menschenverständnisses gebrochen. Was van Lommel richtig erkannt hat: Die neue Denkweise steht nicht einem Weltbild entgegen, das die Quantenphysik im Laufe der letzten 100 Jahre langsam entwickelt hat, dessen Tragweite aber noch nicht zur Medizin und Psychologie durchgedrungen ist. Das Adjektiv „nicht-lokal“ im „nicht-lokalen Bewusstsein“ stellt den Bezug zur Quantenphysik her. Man kann beispielsweise zwei Lichtteilchen (Photonen) so miteinander verbinden, „verschränken“, wie man sagt, dass sie diese Verbindung miteinander behalten, wenn sie voneinander wegfliegen. Ändert man den Zustand des einen, dann ändert sich augenblicklich der Zustand des anderen in analoger Weise. Das nennt man Nicht-Lokalität. Albert Einstein sah darin eine Verletzung seiner Relativitätstheorie und stieß 1935 eine erregende Diskussion unter Quantenphysikern an, ob die Quantentheorie falsch oder wenigstens unvollständig sei oder ob das exotische Phänomen wirklich existiere. Erst 1982 fiel durch geeignete Experimente die Entscheidung: Die Natur ist exotisch, die Quantentheorie richtig. Das hat nicht nur Konsequenzen für unser Naturverständnis, sondern auch für die Technik: Auf dem Phänomen Verschränkung gründet eine neue Computergeneration, die manche Aufgaben milliardenfach schneller löst als der beste heutige Rechner. Weltweit wird an der Entwicklung dieses Computers fieberhaft gearbeitet. Mit der Nichtlokalität hat eine Art der Kommunikation zwischen Quantenzuständen Einzug in die Physik gehalten, die man sinnvollerweise auch auf Bewusstseinsphänomene anwendet, insbesondere auf solche Zustände, die mit der klassischen Neurobiologie nicht erklärbar sind. So ist es vor wenigen Jahren gelungen, in der telepathischen Kommunikation zwischen voneinander abgeschirmten Personen Nichtlokalität experimentell zu verifizieren. Natürlich ist die entsprechende Forschung noch am Anfang und werden mit dem Begriff „nichtlokales Bewusstsein“ nicht plötzlich alle Rätsel um Psi-Phänomene oder Nahtoderfahrungen gelöst. Auch Quantentheorie ist nur ein begrenztes Hilfsmittel und es gehört zu ihrem Selbstverständnis, dass sie an Grenzen führt, die sie nicht überschreiten kann. Sie motiviert ein offenes Weltbild im Unterschied zur klassischen Physik.
Für uns entscheidend ist, dass eine Öffnung zur Transzendenz hin nicht mehr abseits eines medizinisch-naturwissenschaftlichen Weltbilds, sondern mitten darin anzusiedeln ist, ohne die Transzendenz selbst in den Griff bekommen zu wollen. Welche Auswirkung, so fragen wir weiter – und betreten damit die dritte, die Bedeutungsebene – hat das für das religiöse und insbesondere das christlich-theologische Verständnis vom Menschen? Sind die Nahtoderlebnisse von genügender Intensität – sie können auch flüchtig und ohne erkennbare Folgen sein – dann wird meist ihre nachhaltige, verändernde Kraft deutlich, insbesondere hinsichtlich der Frage nach Sinn des Lebens und Jenseits. Fast durchweg stellt sich ein Glaube an ein Leben nach dem Tod ein oder wird verstärkt, wenn er schon vorhanden war. Dabei gibt es eine erstaunliche und, wie ich meine faszinierende Feststellung: Das spirituelle Erlebnis hat zwar religiösen Charakter, aber nicht im Sinne einer bestimmten Religion. Es ist universal. Seine Spuren lassen sich zurückverfolgen bis in den Schamanismus, man findet ihn in buddhistischer Einkleidung ebenso wie in islamischer oder christlicher. Auch Menschen, die sich Atheisten nennen oder keinerlei religiöse Interessen zeigen, sehen sich manchmal, etwa nach einem Verkehrsunfall, plötzlich in ganzer Breite der Frage nach Jenseits und Leben nach dem Tod konfrontiert. Eine Deutung dessen, was uns danach erwartet, ist dann eine Frage der spezifischen Religion. Es ist eine diskutable Hypothese besagt, dass Religion weniger durch bewusstes Nachdenken über mögliches Weiterleben nach dem Tod entstanden ist als durch Nahtoderfahrungen, von denen man annehmen kann, dass es sie schon zu Urzeiten gegeben hat. Für die christliche Theologie mag diese Universalität der Nahtod-Spiritualität eine unbequeme Herausforderung darstellen. Hatte man doch weitgehend den Gedanken einer unsterblichen Seele beiseite geschoben und in der so genannten Ganztodtheologie sich der naturalistischen Annahme gebeugt, im Tod sterbe der ganze Mensch, einschließlich Leib und Seele. – Nun fragen ausgerechnet Mediziner und Naturwissenschaftler, denen man entgegen kommen wollte, ob das stimmt. Und praktisch gesehen kommt es immer wieder vor, dass Menschen mit Nahtoderlebnis freudestrahlend ihrem Pfarrer oder Seelsorger von ihrem tiefen Gotteserlebnis erzählen und abgewiesen werden – als Schwärmer oder Esoteriker. Besonders eine „verkopfte“ protestantische Theologie hat nur bedingt Raum für spirituelle Erfahrung. Zusätzlich verweist man darauf, dass erst der Platonismus den Gedanken der unsterblichen Seele ins Christentum gebracht habe. Hierüber mag man streiten. Plato, der im 10. Buch seiner Politeia selbst vom Nahtoderlebnis eines Soldaten namens Er berichtet, mag eine für Christen unakzeptable Seelendeutung vertreten haben. Das biblische Zeugnis ist jedoch umfassender. Spirituelle Erlebnisse wie das von Jesus, Petrus und Johannes auf dem „Berg der Verklärung“ oder die Berichte über die Erscheinungen des Auferstandenen stehen der Denkweise sehr nahe, wie wir sie im Gefolge von Nahtoderfahrungen im neuen Weltbild entwickelt haben. Im Hintergrund steht auch die altägyptische Vorstellung von der Ba-Seele, die – ganz unplatonisch – mit dem Leib heranwächst und beim Tod den Körper verlässt, wie ein Vogel davonfliegt und, solange der Körper intakt ist, zurückkehren kann. Vermutlich haben auch hier Nahtoderfahrungen Pate gestanden. Der Mumienkult, der sich später entwickelte, sollte dafür sorgen, dass der Seele möglichst lange die Möglichkeit gegeben wird, noch einmal zurückzukehren. Ich halte es für eine christlich, aber auch allgemein religiös legitime Vorstellung, dass am Ende eines jeden Lebens die Aufnahme in das Licht der Liebe steht. Der Übergang kann unterbrochen werden, so dass Menschen von einer Nahtoderfahrung reden, die ihr weiteres Leben prägt. Wird der Übergang nicht unterbrochen und stirbt der Betroffene, erfahren wir nicht mehr, was geschieht. Rechenschaft und Gericht schließt Aufnahme im Licht der Liebe nicht aus. Das Zeugnis der Nahtoderfahrung ist dann einerseits der Abschied von einem naturalistischen Menschenbild, das behauptet, mit dem Tode sei alles aus. Es ist aber auch Hinweis (nicht Beweis), dass uns am Ende unsres Lebens das Licht der Liebe Gottes erwartet.
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