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Reformationsfeier 2005 für die Region St.Gallen

Sonntag, 6. November, 17 Uhr, Kirche St.Laurenzen, St.Gallen

«Vertikale Ökumene» – Familientherapie für die Religionen und Konfessionen

Referent: Prof. em. Dr. h.c. mult. Othmar Keel, Universität Freiburg;
Initiant des «BIBEL+ORIENT MUSEUM» in Freiburg

 

Liebe Brüder und Schwestern,
die Anrede klingt etwas anbiedernd und pietistisch. Sie werden im Laufe meiner Darlegungen merken, warum ich sie gewählt habe. Das ist die erste Vorbemerkung.
Die zweite: Ich bin römisch-katholisch praktizierend. Wenn ich im Folgenden kritische Bemerkungen zur Praxis meiner Kirche mache, geschieht das, weil ich sie besonders gut kenne, nicht, weil ich persönlich irgendwelche Verletzungen erfahren hätte. In der Kindheit haben mich meine weitherzigen Eltern davor bewahrt. In meinen entscheidenden Jahren der Berufsfindung wehte der offene Wind des 2. Vatikanums und von polizeistaatähnlichen Zuständen, zu denen sie unter Johannes Paul II. und Kardinal Ratzinger wieder hintendierte, war nichts zu spüren. Ich mache kritische Bemerkungen aus Liebe zu dieser Kirche wie ich kritische Bemerkungen zur Schweiz mache, weil ich weiterhin gern in ihr leben möchte.

Meine Darlegung ist dreiteilig:
Erstens: Was meint vertikale Ökumene?
Zweitens: Was steht ihr im Wege?
Drittens: Warum ist sie unverzichtbar?

Erstens: Was meint vertikale Ökumene?

Bei der gängigen Ökumene versammeln sich Vertreter und Vertreterinnen verschiedener christlicher Konfessionen um einen Tisch, legen ihre Positionen dar, nehmen die der anderen zur Kenntnis und versuchen Gemeinsamkeiten herzustellen. Ich möchte diese Art der Ökumene als horizontale bezeichnen. Nach den Entscheiden der letzten römisch-katholischen Bischofssynode hat man den Eindruck, diese Art der Ökumene trete ein bisschen an Ort.

Der griech. Ausdruck oikoumenä heisst eigentlich die zivilisierte, die bewohnte Erde. Der Ausdruck hatte immer die Tendenz, nur jenen Teil der Erde, nur jene Bewohner, zu denen man selber gehörte, als zivilisierte Welt zu bezeichnen, z. B. die griech. Welt oder das röm. Imperium. Nach der grauenhaften Ermordung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen zw. 1933 und 1945 in Europa hat man auch die Juden als Teil der Ökumene, der Bewohner und Bewohnerinnen unserer Region und der Erde, wahrzunehmen begonnen. Jüdisch-christliche Gesprächsrunden entstanden. Man begann, völlig neu, von einer jüdisch-christlichen Überlieferung zu sprechen. Jahrhunderte lang hat man jüdisch-christlich als Gegensatz gesehen. Der Berner Pfarrer Eduard Gerber hat diese Bemühungen 1999 als „Ökumene der Vertikalen“ bezeichnet. Sie mache bewusst, „dass die 336 im Ökumenischen Rat der Kirchen untereinander wie mit allen Kirchen der Welt sozusagen ‚horizontal' verbundenen Gemeinschaften eben ihren Stamm und ihre Wurzel im Volk des Gottes Abrahams, im jüdischen Volk haben.“ (Ders., Sekten, Kirche und die Bibel im neuen Jahrtausend, Licorne Verlag, Bern, S. 234).
Angesichts der wachsenden Zahl muslimischer Gemeinden hat man unter dem Stichwort abrahamitische Religionen und abrahamitische Ökumene in letzter Zeit auch diese in die ökumenische Bewegung einzubeziehen begonnen. Mohammed selber hat den Begriff ahl al-kitab „Leute des Buches“ geprägt und Judentum, Christentum und Islam unter diesem Begriff zusammengeschlossen und den Götzenverehrern gegenübergestellt.

Ohne von Pfarrer Gerbers Buch zu wissen, habe ich 2001 einen Vortrag, den ich in einer ersten Version schon am 11. Febr. 1993 in Münster/Westfalen gehalten habe („Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18b)), mit dem Titel „Kanaan - Israel - Christentum. Plädoyer für eine ‚vertikale' Ökumene“ überschrieben.
Ich habe so die vertikale Ökumene über den historisch nicht fassbaren und deshalb leicht zu manipulierenden Abraham zurück in die historisch fassbare Welt der kanaanäischen, ägyptischen und mesopotamischen Religionen hinabgeführt, aus denen die jüdische hervorgegangen ist. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit!“ (Thomas Mann). Was soll diese Ausweitung in die Tiefe, in die Vergangenheit? Ich werde zeigen, dass diese bewusste Zurückführung über das Judentum und die beiden anderen Buchreligionen hinaus nicht nur ein historisches Wissensbedürfnis befriedigt, sondern Folgen auch für die Gegenwart hat.

Die vorisraelitische, die ich der Einfachheit halber einmal als kanaanäische Religion bezeichne, die israelitisch-judäisch-jüdische, die christliche und die muslimische Religion, jede in ihren Versionen und Varianten, bilden bei dieser Sicht einen einzigen grossen Traditionszusammenhang. M. E. hat man die Cäsur, den Graben, den Abstand zw. den verschiedenen sogenannten abrahamitischen und zw. diesen und der kanaanäischen Religion bzw. den sogenannten Naturreligionen übertrieben, künstlich ausgeweitet und verabsolutiert. Es gibt da viel mehr Zusammenhänge als man gemeinhin denkt.
Wenn man sich das äusserst komplexen Gebilde dieses Traditionszusammenhangs in einfachen Modellen vorstellen will, kann man sich das z. B. als Generationenfolge vorstellen. Die kanaanäische Religion wäre die Grossmutter, das Judentum die Mutter, das Christentum die Tochter und die Religion Mohammeds die Enkelin. Oder man kann das Modell eines Menschenlebens wählen. Die kanaanäische Religion wäre die Kindheit, das Judentum das aktive Erwachsensein, das Christentum das aufs Jenseits ausgerichtete Alter und der Islam etwas zwischen den beiden letzteren. Oder man kann ein architektonisches Modell wählen, das Bild eines Turms und die verschiedenen Religionen wären verschiedene Stockwerke. Dieses Modell macht besonders deutlich, dass ein neues Stockwerk die früheren nicht überflüssig macht.
Aber lassen wir diese zu simplen Modelle und versuchen wir die einzelnen Religionen, ihre Vorteile, ihre Defizite kurz zu charakterisieren.
Die kanaanäische Religion und ihre Verwandten zeichnen sich durch eine grosse Sensibilität für die Natur, jüdisch-christlich gesprochen für die Schöpfung aus. Im Lauf der Gestirne, in der Härte des Steins, in der reinigenden und befruchtenden Kraft des Wassers, im Rauschen der Bäume, in der Zeugungskraft des Stiers, in der Attraktion des Sexuell-Erotischen, in der Entscheidungsmacht des Königs, in der Faszination, die ein Kultbild ausübte, erlebte man direkt geheimnisvolle Manifestationen des Göttlichen. Nicht dass man z. B. das Kultbild für die Gottheit gehalten hätte, wie das die jüdische Polemik dann behauptet hat. Man wusste selbstverständlich, dass ein Gott im Himmel weiter lebt, auch wenn sein Kultbild zerstört wird. Die Kanaanäer haben nicht, wie die Propheten behaupten, Stein und Holz als Götter verehrt, wie das die Propheten Israels behaupteten. Man hat in der kananäischen Religion auch keine Kinder geopfert, wie das selbst aufgeklärte Christen wie Eugen Drewermann bis heute annehmen und nachschwatzen. Aber man hat die Natur ernst genommen. Die Erotik, die sich in Göttinnen wie Ischtar, Astarte, Aphrodite oder Venus verkörperte, wurde nicht nur als etwas enorm Positives, sondern unter Umständen auch als etwas Bedrohliches wahrgenommen, aber jedenfalls als etwas dem man sich stellen und mit dem man umgehen musste. Man hat die Erotik nicht als Mittel zum Kind instrumentalisiert, wie das die römisch-katholische Kirche in ihrer finis primarius-Lehre vertrat. Im sogenannten Hohenlied, in dieser alttestamentlichen Sammlung von Liebesliedern hat sich ein Dokument dieser Wahrnehmung der Erotik erhalten. Fast identische Liebeslieder finden wir auch im alten Ägypten. Da geht es um die erotische Beziehung als solche und von Familie und Kindern ist da keine Rede.

Was ist mit dieser Erotik passiert, als das Judentum immer stärker seine eigene Identität entwickelte und sich wie ein pubertierender Jugendlicher von seinen Eltern abgrenzte? Natürlich war die Praxis der Erotik schon in der kanaanäischen Kultur gesellschaftlichen Regeln unterworfen. Jetzt aber wurde sie auch in Gedanken strikt in den Bereich der Ehe verwiesen. Dort aber hatte sie ihren berechtigten Platz. Das zeigt etwa Sprüche 5,15-20. Das hat sich nicht geändert. 2001 ist vom Rabbiner Shmuley Boteach das Buch „Koscherer Sex“ erschienen, ein Buch, das der jeder Art sexueller Lust und Praxis das Wort redet, solange sie innerhalb der Ehe praktiziert werden. Das Hohelied aber hat schon die jüdische Tradition als teil der Schrift der menschlichen Erotik entzogen, um nicht zu sagen gestohlen und es so künstlich das auch war, auf die Liebe zwischen Gott und Israel bezogen.
Die christliche Deutung des Hohenliedes hat sich daran angeschlossen nur dass Israel nun durch die Kirche oder die einzelne fromme Seele ersetzt wurde.
Puncto Sexualität und Erotik aber entfernte sich die christliche Tradition noch viel stärker von der kanaanäischen Unbefangenheit als das Judentum. Im 1. Brief an die Korinther statuiert der Apostel Paulus rundheraus: „Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren. Wegen der Gefahr der Unzucht soll aber jeder seine Frau und jede soll ihren Mann haben ...“. Sex in der Ehe ist nicht gut, es ist das geringere Übel. Am besten ist, keinen Sex zu haben und sich ganz auf die künftige Heimat, auf Christus auszurichten. Das bestätigt auch die Heiligsprechungspraxis der röm.-kath. Kirche. Äusserst selten werden verheiratete Männer oder Frauen heilig gesprochen, meistens sind es zölibatäre Menschen. Und wenn es für einmal Verheiratete sind, wird gerne betont, dass sie in einer Josephsehe, d.h. möglichst ganz oder wenigstens möglich lange ohne Sex lebten.
Ein sehr fernes Ziel, eine sehr geistige und wenn überzeugend gelebt eindrückliche Option wird zur normalen deklariert und das hat viel Heuchelei produziert. Das ist eines der Probleme dieser hochgesteckten christlichen Option. Durch das Multipack (wer die Zahnbürste will muss auch die Zahnpasta kaufen) von Priestertum und Zölibat hat die röm.-kath. Kirche viele Menschen in den Zölibat hinein manövriert, die nicht dazu berufen und geschaffen waren und sie in grosse Nöte gebracht. Die geradezu neurotische Konzentration auf die Sexualmoral, wie sie noch vor 60 Jahren herrschte, hat heute etwas nachgelassen. Eine kriminell rigoristische, völlig unchristliche Haltung taucht aber immer wieder auf, so etwa wenn der Papst gegen den Gebrauch von Kondomen im HIV verseuchten Afrika polemisiert.

Das Beispiel der Sexualität und ihr Stellenwert in den einzelnen Modellen zeigt drei Dinge:
Erstens einmal, dass der Wechsel von einem Modell zum anderen wie etwa der Wechsel von der Kindheit zum Erwachsenenstatus, oder vom aktiven Alter zur Pensionierung Gewinn und Verlust bedeutet. Der Wechsel vom kanaanäischen zum jüdischen Verständnis bringt ein Gewinn an ethischer Verantwortung bezüglich sexueller Tätigkeit, aber einen Verlust an Sensibilität für deren Vielfalt und Omnipräsenz.
Zweitens zeigt das Beispiel:Jedes Modell reduziert, engt künstlich ein und akzentuiert. Der Realität wird es nur beschränkt gerecht. So ist jedes Modell in der Praxis immer wieder gezwungen Elemnte eines anderen Modells zu übernehmen. Auch im sehr christlichen Hochmittelalter, als das christliche Modell radikal dominierte, hat man die undomestizierte Macht der Erotik weiterhin erfahren und versucht sie zu benennen. Und so finden wir etwa in den Carmina Burana plötzlich wieder die alte Venus, als ob sie nie abgeschafft und ausgerottet worden wäre: Quidquid Venus imperat, labor est suavis! Man brauchte sie, weil das Christentum keinen oder nur sehr negative Namen für diese begeisternde Erfahrung bereitstellte. Sandro Boticelli hat zwar hauptsächlich Madonnen und andere christliche Themen gemalt und das berühmte Bild, Die Geburt der Venus, wollte er, nachdem er in den Bannkreis Savonarolas geraten war, zerstören. Vierhundert Jahre nach Boticelli finden sich bei Picasso keine Madonnen mehr. Kanaanäische Motive wie die weibliche Erotik und der Stier beherrschen sein Werk. Jedes Modell hat seine Vorzüge und seine Grenzen. Keines genügt auf Dauer.
Drittens begünstigt jedes Modell eine Gruppe von Menschen. Menschen, die wenig sexuelle Bedürfnisse haben, werden sich im christlichen Modell wohler fühlen als im kanaanäischen und umgekehrt. Kein Modell wird allen Menschen gerecht. Jedes Modell aber unterliegt der Tendenz absolut gesetzt zu werden und damit sind wir beim zweiten Punkt.

 

 

Zweitens: Was steht einer vertikalen Ökumene im Wege?

Die vertikale Ökumene fordert, die verschiedenen Phasen der kanaanäisch-jüdisch-christlich-islamischen Tradition als Phasen, als Aspekte EINER grossen Erfahrung zu verstehen und nicht das unterste Stockwerk gegen das oberste oder die Kindheit gegen das Alter auszuspielen, sondern sie als Ganzes zu sehen und zueinanderhin offen zu halten, sie in einen geschwisterlichen Dialog einzubeziehen, der ein gegenseitiges Kritisieren und Infragestellen durchaus einschliesst.
Einer solchen Sicht steht aber die Geschichte dieses Überlieferungsstroms entgegen. Er ist durch brutale, ja durch kriminelle Abgrenzungen und Brüche gekennzeichnet
Die monotheistischen Religionen sind durch ein starkes Konfrontationsdenken bestimmt, das auf der Absolutsetzung eines Teils auf Kosten des Ganzen basiert und das geht zurück bis in die sogenannten heiligen Schriften der drei Religionen.
So heisst es im Koran Sure 9 Vers 28.
„Kämpft (qatilu; 3. Stamm; sie in einen Zustand versetzen, in dem sie euch nicht schaden können) gegen diejenigen, die nicht an Gott und an den jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben (z. B. Wein zu trinken), und nicht der wahren Religion angehören - von denen die die Schrift erhalten haben (d. h. den Juden und den Christen) - (kämpft gegen sie) bis sie kleinlaut Tribut zahlen.“
Der Vers hat unter Korangelehrten Diskussionen ausgelöst, weil der bedingungslose Kampf sonst nicht gegen die Leute des Buches (ahl al-kitab), die Juden und die Christen, sondern nur gegen die Heiden gefordert wird. Die folgenden Verse, in denen Mohammed den Juden vorwirft, sie hätten Esra, den Erneuerer des mosaischen Gesetzes, und den Christen, sie hätten Jesus an Stelle Gottes zu ihrem Herrn gemacht, zeigt, dass Juden und Christen durchaus mitgemeint sind. So ist der nächste Satz ganz klar auch gegen Judentum und Christentum gerichtet (Zitat) „Aber Gott will sein Licht durchaus in seiner ganzen Helligkeit erstrahlen lassen ... und der wahren Religion zum Sieg verhelfen über alles, was es sonst an Religion gibt (also auch über das Christentum und das Judentum) ...“ Der Kampf gegen alle Religionen wurde schon von Mohammed auf sehr verschiedene Art geführt, durchaus auch mit blutiger Gewalt. Nachdem Mohammed bei Badr im März 624 n. Chr. einen überraschenden Sieg gegen eine mekkanische Übermacht errungen und stark an Selbstbewusstsein gewonnen hatte, begann er mit der Vertreibung und schliesslich der Ermordung aller Juden Medinas. Zwei der drei jüdischen Stämme in Medina wurden vertrieben. Vom dritten, den Quraiza, wurden alle Männer, etwa 600, ermordet, und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft (F. Buhl, Das Leben Muhammeds, 1929, Darmstadt 1961, 274-277; R. Paret, Mohammed und der Koran, Stuttgart 1957, 110f). Wenn extremistische Muslime behaupten, nur der wahren Religion stehe das Recht der Herrschaft zu und diese sei auch mit blutigen Mitteln durchzusetzen, können sie sich durchaus auf Koran und das Vorbild des Propheten berufen. Europäische und amerikanische Stimmen fordern dann ein hist.-kritisches Verständnis des Koran, eine Art Aufklärung. Das fordern inzwischen auch manche arabisch-islamische Gelehrte, so der tunesische Gelehrte Abdelwahab Meddeb in seinem Buch „Die Krankheit des Islam“ (Heidelberg 2002) oder der Ägypter Sayyid al-Qimni, der von Fundamentalisten aber so massiv mit dem Tod bedroht wurde, dass er seine Kritik öffentlich widerrufen hat (NZZ 9. Sept. 2005, S. 43).

Wir finden aber nicht nur im Koran Stellen, die einen aggressiven Absolutheitsanspruch erheben, sonder auch in der Jüdischen Bibel, im sogenannten Alten Testament. So lesen wir im 5. Buch Mose, im Dtn, im Kapitel 7:
„Wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, wenn er dir viele Völker aus dem Weg räumt, ...Kanaanäer .. Hiwiter..Jebusiter...wenn der Herr, dein Gott sie dir ausliefert und du sie schlägst, dann sollst du sie der Vernichtung weihen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schliessen und sie nicht verschonen und dich nicht mit ihnen verschwägern...So sollt ihr gegen sie vorgehen: Ihr sollt ihre Altäre niederreissen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen!“ (Dtn 7,1-5).
Man rechtfertigt diese Sätze in exegetischen Kreisen damit, dass sie nicht wörtlich gemeint seien und jedenfalls nur Theorie geblieben seien und dass sie tiefgründig verstanden nur die Unvereinbarkeit des einen wahren Gottes mit irgendwelchen Götzen zum Ausdruck bringen. Was sind Götzen? Götzen sind innerweltliche Phänomene, die zu Unrecht beanspruchen, angemessener Ausdruck des letzten unfassbaren Geheimnisses zu sein, den ultimativen Horizont menschlicher Existenz zu bilden. Götzen sind vorletzte Grössen, die beanspruchen letzte zu sein.
Was ist zu solchen Rechtfertigungen zu sagen?
Nichts deutet darauf hin, dass sie nicht wörtlich gemeint sind. Der Entschuldigung, die Sätze seien blosse Theorie muss man entgegenhalten, dass auch Theorien schlecht sein können. Und leider gab es immer wieder Momente wo diese Sätze nicht Theorie geblieben sind, sondern von Gläubigen in Praxis umgesetzt wurden. Als am Ende des 2. Jhs. v. Chr. jüdische Könige nichtjüdische Territorien eroberten, zwangen sie die Bewohner, sich zum Judentum zu bekehren oder das Land zu verlassen, wie der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus berichtet (Ant 13,255-258; 318), eine Praxis, die dann am Ende des 15. Jh. n. Chr. in Spanien den Juden gegenüber geübt wurde. Die bibelfesten Buren in Südafrika haben die Schwarzen mit den Kanaanäern gleich gesetzt und deren Unterdrückung und die Apartheitspolitik mit Deuteronomium 7 gerechtfertigt. Und jene orthodoxen Juden, die sich rabiat gegen den Abzug aus dem Gazastreifen zur Wehr setzten, haben ihrereseits die Palästinenser zu Kanaanäern erklärt und sich auf Dtn 7 berufen. Wenn ich den Bruch zw. der kanaanäischen Religion und dem Judentum, Christentum etc. als zu brutal, als ungerechtfertigt denunziere, ist das, wie diese beispiele aus der neuen und neuesten geschichte zeigen, keineswegs nur ein historisch-akademisches Problem.
Europa pflegt sich der islamischen Welt gegenüber seiner Aufklärung zu rühmen. Aber in manchen christlichen Kreisen ist Aufklärung immer noch ein Schimpfwort und man hält an der religiösen und moralischen Unfehlbarkeit der Schrift fest.

Aber nicht nur der Koran und das Alte Testament enthalten Texte, die inakzeptabel sind. Sie finden sich auch in den Schriften des Neuen Testaments. Das Johannesevangelium lässt im Kap. 8 Jesus zu den Juden, die seine Worte nicht annehmen, sagen: „Warum versteht (warum akzeptiert) ihr nicht, was ich sage? Weil ihr nicht imstande seid, mein Wort zu hören. Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an ... und ein Lügner“. Diese Sätze werden in christlichen Gottesdiensten nach wie vor öffentlich vorgetragen. Wer solche Sätze vorliest ohne sich sofort davon zu distanzieren und sie für falsch zu erklären, kann wegen Verstosses gegen das sogenannte Antirassismusgesetz angeklagt werden. In Artikel 261bis1 des Schweiz. Strafgesetzbuches steht u. a.:
„Wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung ... der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet sind ... wird mit Gefängnis oder Busse bestraft.“ Ist es nicht eine sytematische Herabsetzung zu behaupten, die Juden, die den Anspruch Jesu, Sohn Gottes zu sein, nicht akzeptieren, seien Teufelssöhne?
Auch hier haben manche Exegeten unendlich viel apologetischen Fleiss darauf verwendet, zu beweisen, dass die Sätze nicht das sagen, was sie offensichtlich sagen. Sie seien aus dem Zusammenhang gerissen. Sie seien nicht tief genung vestanden worden usw. Aber letztlich gilt auch hier: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,16). Und die Früchte dieser und ähnlicher neutestamentlicher Sätze sind grauenhaft. Es waren Schikane, Vertreibungen und die Ermordung unzähliger Juden und Jüdinnen. Die vor wenigen Jahrzehnten mitten in Europa systematisch und bürokratisch über Jahre hinweg mit Hilfe von Zehntausenden von Helfern und Helfershelfern durchgeführte Ermordung von 6 Millionen Juden und Jüdinnen wurde zwar im Namen eines pseudobiologischen Judenhasses begangen, aber das Fehlen jeden nennenswerten Widerstandes ist ohne die Vergiftung durch einen jahrhundertelang betriebenen, christlich motivierten Judenhass nicht erklärbar. Die Kirchen können sich hier nicht aus der verantwortung schleichen.

Was will ich mit diesem Hinweis auf kriminelle Passagen im Koran, in der Jüdischen und in der Christlichen Bibel sagen? Will ,ich die Leute, die regelmässig in die Moschee, die Synagoge oder die Kirche gehen, schlecht machen? Nein! Ich gehe selber regelmässig in eine Kirche. Es geschieht nicht aus Feindschaft, aus Hass gegen diese Gemeinschaften, sondern aus Liebe. Ich bin überzeugt, dass die kanaanäisch-jüdisch-christlich-islamische Tradition der Menschheit eine Dimension eröffnet, ohne die das menschliche Leben ärmer, begrenzter, weniger hoffnungsvoll, weniger würdevoll, weniger frei, weniger egalitär und weniger solidarisch wäre.
Sollte man die Heiligen Schrift purgieren wie Markion das im 2. Jh. n. Chr. gefordert hat? Nein, die Gefahr wäre zu gross, dass der Bezug zur Realität geschwächt und mit dem Unkraut auch Weizen ausgerissen würde (Mt 13,29).
Warum weise ich dann auf so negative Texte hin? Weil die religiösen Gemeinschaften der jüdisch-christlich-islamischen Tradition, sich jede auf Kosten der andern verabsolutiert haben. Sie haben die Vorgängerreligion angeschwärzt denunziert und ihre eigene Identität zu einem guten Stück darauf aufgebaut, dass sie die Vorgängerreligion zu einer schwarzen Folie gemacht haben, um sich von ihr so hell wie möglich abheben zu können. Das Judentum, das Christentum und der Islam haben die naturfromme kannaanäische Religion zu etwas rein Negativem gemacht, das Christentum das Judentum usw. Sie haben ihrte eigene Position verabsolutiert, ihre eigenen Dokumente zu Götzen gemacht, die der Vorgänger und Nachfahren abgewertet, als minderwertig verschrien und wie die Juden des Johannesevangeliums sogar immer wieder geglaubt, Gott einen Dienst zu tun, wenn sie ihre Brüder und Schwestern aus religiösen Gründen umbrachten (Joh 16,2).
Religiöse Gemeinschaften pflegen ihre Geschichte als Heilsgeschichte zu zeichnen. Lesen sie einmal eine gängige Kirchengeschichte. Wenn sie den Verfasser auf diese Selbstgefälligkeit aufmerksam machen, wird er ihnen sagen, er sei eben nicht nur Historiker, sondern auch Theologe. Aber das Element Theologie kann keine Rechtfertigung für Geschichtsklitterei sein. In der jüdischen Bibel wird die Geschichte Israels z. B. in Psalm 78 als eine Geschichte des Versagens Israels dargestellt und damit als Unheilsgeschichte. Genauso gut könnte z. B. die Geschichte der röm.-kath. Kirche nicht nur als Geschichte wunderbarer vom Geist der Liebe inspirierter Leistungen, die es gibt, sondern als Geschichte verpasster Chancen, vergeudeter Charismen und massiver Verbrechen geschrieben werden. Erklärte Gegner der röm.-kath. Kirche haben längst Kriminalgeschichten der röm.-kath. Kirche oder des Christentums generell geschrieben. Die offiziellen Kirchen tun sich hingegen mit ihrer verbrecherischen vergangenheit wahnsinnig schwer, schwerer als manche profanen Staaten. Unter dem Druck der heute dominierenden Naturwissenschaften, hat Johannes Paul II. sich zwar dafür entschuldigt, dass man Galileo Galilei Unrecht getan hat. Aber das war im Vergleich zu den Verbrechen, die zw. dem 15. und dem 17. Jh. - nicht im angeblich dunklen Mittelalter - an den schätzungsweise 15'000 Frauen begangen wurden, die im kath. Raum - im protestantischen waren es etwa gleich viele - grausam gefoltert und bei lebendigem Leibe verbrannt worden sind, bei diesen Frauen hat sich noch kein Papst entschuldigt, obwohl die von Papst Innozenz VIII. 1484 veröffentlichte Bulle Summis desiderantes affectibus ganz wesentlich zu diesen Verbrechen motiviert und sie legitimiert hat. Eine weisse Soutane beweist noch keine weisse, fleckenlose Weste.
((Zw. 1450 und 1700, bes. zw. 1600-1700 sind 100'000 Menschen in Hexenprozesse verwickelt worden; 30'000-60'000 wurden hingerichtet; davon zwei Drittel Frauen; ungefähr gleich viel im kath. und im protestantischen Raum, bes. in D.))
Paulus endet seinen grossartigen Überblick über die Geschichte von Heiden und Juden und deren Beziehung mit dem Satz: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen.“(Röm 11,32). In diese Aussage, die sich auf Heidentum und Judentum bezieht können Christentum und Islam ruhig eingeschlossen werden und das nicht nur im Hinblick auf einzelne Pannen, sondern bis in ihre konstituierenden Urkunden, ihre sogenannten Heiligen Schriften hinein. Das Neue Testament redet übrigens nie von der Heiligen Schrift oder Heiligen Schriften, sondern nur von der Schrifte und den Schriften als Zeugnissen, in denen sich die Erfahrungen einer bestimmten Gruppe von Menschen mit Gott niedergeschlagen hat. Sie sind wie alles Menschliche von Selbstgerechtigkeit, Selbstbehauptung, Beschränktheit und Arroganz nicht frei, oft besonders dort, wo sie im Namen Gottes aufzutreten wagen. In Mk 10,17ff drückt Jesus das Gleiche positiv aus, wenn er einem Mann, der ihn „Guter Meister!“ nennt, antwortet: „Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut ausser Gott, dem Einen!“ Im Mt lehnt Jesus die Titel Meister, Vater, Lehrer für Menschen ab. Einer ist euer Meister, euer Vater, euer Lehrer, Gott, kein Mensch (Mt 23,8-10). Aber Gott ist im Himmel und der Mensch auf Erden und die Menschen wollen einen Gott zum Anfassen und so hat die röm.-kath. Kirche aller Mahnung und Warnung zum Trotz nicht nur einen Vater, sondern sogar einen Heiligen Vater kreiert. Das erinnert an die vergöttlichten Könige der Ägypter und Kanaanäer, wie vieles im Katholizismus ziemlich heidnisch und das heisst unter dem Blickwinkel der vertikalen Ökumene gar nicht so schlecht ist, die jede Verabsolutierung eines einzelnen Modells verbietet.
Es herrscht aber allgemein eine anscheinend unausrottbare Tendenz, sich selber und die eigenen Vorstellungen als die richtigen, die massgebenden hinzustellen, sich selber zu verabsolutieren. Religiöse Menschen sind dieser Versuchung ganz besonders ausgesetzt. Religion bietet sich den Unwissenden, den Unsicheren an, sie aus ihrer Unsicherheit, ihrer Verlorenheit zu befreien, indem sie ihnen den Weg zum Absoluten zeigt. Bei ihrem Bemühen, das Absolute zu finden und den Kontakt mit ihm zu pflegen verfallen sie leicht der Überzeugung, ihre Erfahrungen, ihre Vorstellungen, ihre Ideen von Gott seien mit Gott identisch und sie massen sich das Recht an über andere zu urteilen, ja sie zu verurteilen oder gar zu töten.
Was ist die tiefste Wurzel dieses fast unausrottbaren Absolutheistanspruchs? Es ist das Entsetzen vor dem Tod. Das Gegenteil von absolut ist nicht-notwendig, beliebig, zufällig. Nichts demonstriert uns unsere Nicht-Notwendigkeit, Zufälligkeit, Beliebigkeit brutaler als der Tod. Warum reagieren auf fundamentalistische Art Gläubige so gewalttätig gegen Zweifler und Skeptiker? Nach einer Phase des Suchens, der Unsicherheit, unter der sie gelitten haben, glauben sie in irgendeiner Form der Religion das rettende Absolute gefunden zu haben und nun will man es ihnen wieder wegnehmen. Das macht sie rasend.
Aber dieser ihr Absolutheitsanspruch hat nichts mit wirklicher Frömmigkeit zu tun. Orthodoxien aller Art sind Zerrformen wirklicher Frömmigkeit. Ein konsequenter monotheistischer Gottesglaube kommt um die vertikale Ökumene nicht herum.

 

Drittens: Warum ist die vertikale Ökumene unverzichtbar?

Es sind zuerst einmal nicht religiöse Gründe, die die monotheistischen Religionen zwingen, sich Richtung vertikale Ökumene zu bewegen, ihren selbstgerechten Absolutheitsanspruch aufzugeben und ihre Biographien neu zu schreiben.
Was heisst das, seine, ihre Biographie neu schreiben? Jeder Mensch hütet in seinem Kopf eine Anzahl Bilder und Worte, gelegentlich auch Gerüche, die eine Art Lebensweg, ein Symbolsystem, eine Welt bilden, und hinter denen sich unzählige weitere Bilder und Worte finden, die weniger deutlich im Bewusstsein stehen, aber bei Bedarf mobilisiert werden können. Diese Bilder, Sätze und Gerüche bzw. die Erfahrungen, die sich in ihnen niederschlagen und den eiteren Lebensweg bestimmen, machen unsere Biographie und weitgehend unsere Identität aus.
Gerät eine Person in eine neue Situation, z. B. durch Scheidung, durch Verlust ihres Arbeitsplatzes oder durch eine intensive neue Beziehung irgendwelcher Art, wird die Bilder- und Wortwelt des Lebensweges umgebaut. Bisher dominierende Bilder werden demontiert. Eine geschiedene Frau frägt sich: „Was habe ich überhaupt in diesem Kerl gesehen?“ Ein zölibatärer Priester, der später geheiratet hat, überlegt: „Ich habe damals als 18jähriger nicht gemerkt, dass mir der Zölibat eigentlich zutiefst zuwider war. Ich war zu sehr fremdbestimmt.“ Vage Hintergrundserinnerungen werden frisch gestrichen und in den Vordergrund gerückt. So entdeckt ein Schwuler: „Ich habe plötzlich realisiert, dass mir Männerbeziehungen eigentlich schon immer wichtiger waren als solche mit Frauen“ und er wird entsprechende Bilder in den Vordergrund rücken. Eine bestandene Frau, die sich in einen Italienre verliebt stellt fest: „Italien hat mich eigentlich schon immer fasziniert.“
Nicht nur Einzelne, sondern auch Gemeinschaften bauen ihre Biographien um.
Auch hier sind neue Situationen, neue Bedürfnisse entscheidend. Dabei kann der Umbau der Symbolwelt unmerklich und unbewusst oder in lauten Auseinandersetzungen geschehen. Letzteres gilt etwa für die Neuschreibung der türkischen Geschichte. So lange die Türkei in keiner engeren Partnerschaft mit Europa lebte, konnte es den Genozid an den Armeniern von 1915 ignorieren. Das Bestreben der EU beizutreten, zwingt die Türkei den von ihr bisher als normalen Teil einer kriegerischen Auseinandersetzung eingestuften Vorgang als das zur Kenntnis zu nehmen, als was er von aussen zur Kennnis genommen wird, als Genozid. Sobald eine Gruppe mit anderen Gruppen in realen Kontakt tritt, wird die Möglichkeit einer nahezu beliebigen Innenwahrnehmung beschränkt. Solange ich isoliert lebe, kann ich mich mehr oder weniger sehen, wie ich will. Will ich eine ernsthafte Beziehung eingehen, hört diese Selbstbestimmung, hört die Autonomie meiner Selbstwahrnehmung auf.

Wie alle Gemeinschaften haben sich auch die grossen monotheistischen Religionen, das Judentum, das Christentum und der Islam in allen ihren Varianten eine Bilder- und Wort-Identität geschaffen, die bei Veränderung der Situation dauernd umgebaut wird und werden muss, wenn eine gewisse Kohärenz der Selbstwahrnehmung mit der aktuellen Situation bestehen soll. Die im zweiten Abschnitt kurz angetönten kriminell-diskriminierenden Positionen der einzelnen Religionsgemeinschaften andern gegenüber zwingen diese beim engeren Zusammenrücken, von dem gleich die Rede sein wird, ihre Biographien, die Darstellungen ihrer Geschichte neu zu schreiben, wenn sie nicht jeden glaubwürdigen Anspruch verlieren und ihr Inerscheinung-Treten nicht auf Theatralisch-Folkloristisches ohne Substanz beschränken wollen.

Das engere Zusammenrücken ist eine Tatsache. Die Situation der drei monotheistischen Religionen hat sich in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jhs. dramatisch verändert. Die erste Hälfte des 20. Jhs. war durch aggressive Nationalismen und totalitäre Ideologien bestimmt, die sich selber verabsolutierten und vergötzten. Die Folge waren zwei mörderische Weltkriege. Aus diesem traumatischen Erlebnis und dem Willen zu überleben und künftig besser zu leben sind die europäische Union, die EU, und die Vereinten Nationen, die UNO hervorgegangen und grosse Teile der Menschheit suchen heute ihr Heil mehr oder weniger entschlossen nicht mehr in Konfrontation, sondern in Kooperation. Die Religionsgemeinschaften können sich diesem weltweiten Trend, Gott sei Dank, nicht entziehen. Neue Techniken der Mobilität (Flugverkehr) und der Kommunikation (Internet) fördern diese Kooperationsbereitschaft und das Gefühl in einem global village zu leben. Dazu kommt der ständige Fluss der Migration, der durch das Armut-Reichtumsgefälle und durch demographische Umstrukturierungen (z. B. Überalterung) in Gang gehalten wird.
Von diesen Umstrukturierungen bleiben die monotheistischen Religionen und Konfessionen nicht unbetroffen. Durch die Katastrophe der Schoa ist, wie gesagt, das Judentum nicht verschwunden, sondern entgegen der Intention der Nationalsozialisten verstärkt ins Bewusstsein getreten. Durch die Migration leben plötzlich über 300'000 Menschen islamischen Glaubens in der Schweiz. Wir müssen mit ihnen leben und uns mit ihnen beschäftigen und können ihre Religion nicht mehr auf so einfache Weise als defizitär abtun wie damals als es sie nur weit hinten in der Türkei gab. Sie stellen manche Aspekte unserer Kultur, z. B. die omnipräsente neukanaanäische Sexualisierung des öffentlichen Lebens, in Frage und wir manche Aspekte ihrer Kultur, etwa den Umgang mit den Frauen. Wo sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort absolute Ansprüche gegenüberstehen, werden diese Ansprüche allein durch die Tatsache ihres gleichzeitigen Vorhandenseins in Frage gestellt.
Eine zweite Herausforderung für den Absolutheitsanspruch der monotheistischen Religionen stellt der relativ hohe ethische Standard unserer Zivilgesellschaft dar. Wir haben schon gesehen, wie das Antirassismusgesetz den Absolutheitsanspruch des Johannesevangeliums Frage stellt. Ähnliche Einschränkungen erfahren die Hasstiraden moslemischer Prediger. Das jüdische Schächtungsgebot fiel einem vielleicht leicht antisemitisch gefärbten Tierschutzartikel zum Opfer. Der Tierschutzaspekt ist aber doch stark genug, dass selbst die jüdische Gemeinschaft es lieber vermeidet, das Thema wieder aufs Tapet zu bringen. Die meisten innerreligiösen Rechtsverfahren, so auch das katholische, respektieren die Würde des Menschen weniger als die staatlichen und nehmen sich im Vergleich zu diesen ziemlich plump und autoritätsgläubig aus. Man betont dann, die röm.-kath. Kirche sei eben keine Demokratie und die Wahrheit könne nicht durch Abstimmungen ermittelt werden. Die urchristlichen Gemeinden waren keine Demokratien, aber noch viel weniger waren sie zentralistische autoritär gelenkte monarchieähnliche Gebilde, wie das die röm.-kath. Kirche heute ist.
Die Kirche pflegt in Fällen wie diesen die vom Heiligen Geist inspirierteTradition anzurufen. Allerdings kommt hier häufig eine wenig überzeugende Doppelstrategie zur Anwendung. Kommt man auf die Verbrechen der Kirche zu sprechen wird zur Entschuldigung die Geschichte und der damals herrschende Zeitgeist mobilisiert. Geht es um Aspekte, die man behalten will, wird ihr geschichlich bedingter Charakter geleugnet.
Bei Themen, wie den eben genannten, beklagen sich die Religionen gern über Einmischungen von aussen und beanspruchen für sich selber eine ganz eigene Sicht.
Man unterscheidet radikal die Innenansicht, die man als theologisch bezeichnet, von der Aussenansicht, der man einen bloss religionswissenschaftlichen Charakter bescheinigt. Diese Unterscheidung ist aber nicht viel mehr als eine auch theologisch fragwürdige Immunisierungsstrategie.
Sie ist theologisch nicht haltbar.
Schon die kanaanäischen Naturfrömmigkeit, vor allem aber die monotheistischen Religionen basieren auf der radikalen Erfahrung der eigenen Kreatürlichkeit und damit verbunden dem Bewusstsein, diese Welt mit zahlreichen anderen Geschöpfen zu teilen. Allen diesen Geschöpfen eignet in den monotheistischen Religionen die Überzeugung, dass ein Gott und Vater oder, da Gott kein Geschlecht hat, eine Göttin und Mutter alle Geschöpfe geschaffen hat. Alle Geschöpfe haben so den Status von Brüdern und Schwestern. Klassisch kommt diese Sicht im sogenannten Sonnengesang des Franz von Assisi zum Ausdruck. Ihre Konsequenz ist die Liebe zum Schöpfer, die nicht von der Liebe zu allen Geschöpfen getrennt werden kann. Die Stichworte égalité und fraternité der französischen Revolution haben ihr Ursprung nicht im Sklavenstaat der griech.-röm. Antike, sondern in der jüdisch-christlichen Tradition. Die damaligen offiziellen Vertreter der Kirche waren aber so mit der Monarchie verhängt, dass es den Revolutionären unmöglich wahr das zu sehen.
Die Gottesliebe und die Liebe zu den Geschöpfen ist in den monotheistischen Religionen von ihrer Grundannahme her unverzichtbar. Im Judentum wie im Christentum sind die Gottes- und die Nächstenliebe, die Ethik, engstens verknüpft und das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Zur Nächstenliebe gehört aber nicht nur, mit den Hungernden zu teilen, sondern auch, ihn oder sie als Menschen mit ihren bzw. seinen Erfahrungen, Überzeugungen, Einsichten und Ansichten ernst zu nehmen. Eine reale Nächstenliebe verbietet, die Innenansicht, die eigene Ansicht als etwas von der Aussenansicht total Verschiedenes und für sie Belangloses wahrzunehmen. Die Nächstenliebe verlangt, dass ich das, was ein Protestant über mein System sagt, ebenso ernst nehme, wie das was ich selber sehe, wenn meine existentielle Entscheidung am Schluss dann auch meine ganz eigene Sache ist und für mich stimmen muss.
Der Vorwurf, der gegen eine solche Position erhoben wird, die fordert den Nächsten ebenso ernst zu nehmen wie sich selber, heisst Relativismus, Beliebigkeit. Dazu ist zu sagen, dass die Nächstenliebe nicht verlangt, die Positionen des Nächsten zu übernehmen, nur sie ernstzunehmen. Ich bin vielleicht gehalten mit ihm, mit ihr geschwisterlich zu streiten. Aber ich habe kein Recht ihn oder sie fertig zu machen und dabei noch zu glauben, ich würde Gott und der Menschheit einen Dienst erweisen. Das wäre Ausdruck blasphemischer Beschränktheit, blasphemischer Arroganz. Jene Kinder, die beanspruchen, ganz allein zu wissen, wer der Vater bzw. die Mutter genau sind und was sie genau wollen und ihre Geschwister mit ihrem Absolutheitsanspruch zusetzen, sind jedem Vater und jeder Mutter ein Gräuel. Sie müssen einander sagen, wie sie was sehen, aber vor allem müssen sie sich vertragen. Das ist was die Eltern von ihnen erwarten. Ich finde es abscheulich und das darf ich als röm.-kath. Christ sagen, für Protestanten ist das ein bisschen schwieriger, wenn die röm.-kath. Kirche getaufte, reformierte Christen vom Abendmahl ausschliesst. Im NT steht: „Wo zwei oder drei in meinem Namen (im Namen Christi) versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen!“ (Mt 18,20). Versammeln sich reformierte Christen und Christinnen etwa nicht im Namen Jesus Christi? Christus genügt das, um gegenwärtig zu sein. Der kath. Hierarchie genügt das nicht. Sie sollen zuerst auch noch die verstaubte Vorstellung von der Transsubstantiation übernehmen. Das ist doch wie, wenn ich ein Fest zu Ehren des Vaters mache und einen meiner Brüder davon ausschliesse, weil er den für dieses Fest vom Vater gestifteten Bordeaux nicht genügend schätzt. Können sie sich vorstellen, wie der Vater sich freut.
Ebenso skandalös wie die Verweigerung des Abendmahls ist die Weigerung der röm.-kath. Kirche dem Ökumenischen Rat der Kirchen als normales Mitglied beizutreten. Diese Position ist ebenso unangebracht wie die lang anhaltende Weigerung der Schweiz, der UNO beizutreten.
Der Relativismus hat seine Grenzen. Es ist die Weigerung, mit allen Geschöpfen in eine echte Relation zu treten. Die Nächstenliebe, die Liebe zu allen Geschöpfen des einen Vatergottes bzw. der einen Muttergöttin ist ein absoluter, integraler und unverzichtbarer Bestandteil eines konsequent und zu Ende gedachten Monotheismus.
Spitz formuliert: Der Relativismus ist das Absolute. Das mag provokativ klingen. Aber gerade für einen traditionalistischen Katholiken sollte es das eigentlich nicht. Der traditionelle Katholizismus beschreibt den trinitarischen Gott als subsistierende Relationen. D. h. die Beziehung des Vaters zum Sohn und beider zum Heiligen Geist ist nicht etwas, was zu den drei Personen hinzukommt, wie ein menschliches Individuum zusätzlich zu seiner Individualität noch die eine und andere Beziehung hat. Im trinitarischen Gott sind die Beziehungen, die Relationen das Wesentliche, die Substanz.
Ein Christ, eine Christin, die sich am trinitarischen Gott - der Liebe ist - orientieren wollen, ja müssen, sollten Relationen und der damit einhergehende Relativismus eigentlich nicht schrecken.
Das 4. Laterankonzil (1215 n. Chr.) hat den Satz des Johannesevangelium (17,22) diskutiert, in dem Jesus bittet, die Gläubigen mögen unter sich eins sein, wie der Vater mit dem Sohn eins sei. Das Konzil war sich bewusst, dass die Einheit unter den Gläubigen bei allem guten Willen Gott nachzuahmen etwas total anderes sei als die Einheit des trinitarischen Gottes. „Beide sind selbstverständlich auf ihre Weise (eins)“. Und das Konzil hat das mit dem umständlichen aber wichtigen Satz begründet, „dass zw. dem Schöpfer und dem Geschöpf keinerlei Ähnlichkeit festgestellt werden kann, bei der nicht eine grössere Unähnlichkeit festzustellen ist (quia inter creatorem et creaturam non potest similitudo notari, quin inter eos maior sit dissmimlitudo notand).“ (Denzinger, 32. Auflage, 1963, S. 262 Absatz 806). Damit sind wir bei der Theologia Negativa angelangt. Ihre Vertreter sind bekennenden Atheisten besonders verhasst. Atheisten schätzen eine besonders simple Gottesvorstellung, die zu attakieren nicht schwierig ist. Die Theologia negativa, die besonders von den grossen Mystikern aller monotheistischen Religionen gepflegt worden ist, hat sich zur Aufgabe gemacht hat, vor allem zu sagen, was Gott nicht ist und so die Grösse und Unzugänglichkeit des göttlichen Geheimnisses vor jedem menschlichen Zugriff zu verteidigen und zu schützen.