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Reformationsfeier des Evangelisch-reformierten Forums St. Gallen
vom Sonntag, 2. November 2003 in der Kirche St. Laurenzen

Reform in der Gesellschaft

von Erika Forster-Vannini, Ständerätin SG

Schon die alten Römer wussten es, die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen. Allerdings ändern sich oft zunächst die Zeiten und wir passen uns in der Gesellschaft nur zögerlich an. Früher, als die Menschen noch nicht fast 90 Jahre alt wurden, fiel das nicht so sehr auf. Heute erleben wir eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Alt hergekommene Lebensformen existieren neben neuen, welche die ältere Generation nie für denkbar gehalten hätte. Die gesellschaftliche Entwicklung ist in den meisten Gebieten weiter als es die Gesetze vermuten lassen. Am augenfälligsten ist dies zB. im Bereich des Zusammenlebens. Noch vor 30 Jahren galt das Konkubinatsverbot, heute werden länger dauernde Konkubinate nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern von den Gerichten als eheähnlich eingestuft und behandelt. Die Registrierung gleichgeschlechtlicher Paare überstieg noch vor 10 Jahren das Vorstellungsvermögen fast aller. Heute befassen wir uns im nationalen Parlament mit einer entsprechende Gesetzesvorlage.

Viele solcher Veränderungsprozesse sind ständig im Gang. Sie gehen lange unbemerkt im Kollektiv vor sich. Der Einzelne ist nicht Träger oder gar Initiant von Reformen. Es oft Jahre und Jahrzehnte bis die gesellschaftlichen Vorgänge in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen und diskutiert werden. Und meist werden diese Veränderungen dann von verschiedenster Seite aufgenommen und angesprochen.

Heute, 14 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer müssen wir in unserem Lande feststellen, dass wir uns mit der damaligen Zeitenwende noch immer schwer tun. Was ist damals geschehen? Die bisherige Weltordnung, in welcher klar war, dass diesseits des Vorhanges die Guten sind und jenseits davon die Bösen, ist ersatzlos zusammengebrochen. Die Versuche, im Nahen und Mittleren Osten eine Achse des Bösen herbei zu reden, sind Beweis dafür. Die Schweiz ist ohne die Zuordnung zu ?den Guten" orientierungslos geworden. Uns fehlt eine gesellschaftliche wie eine politische Vision. Unsere Reformanstrengungen hinken hoffnungslos hinter der veränderten Wirklichkeit her. Wir reformieren nicht, sondern passen in kleinen und kleinsten Schritten, manchmal in die richtige Richtung, unsere Gesetze und unsere Richtlinien an. Die Halbwertszeit unserer Gesetzgebung liegt daher oft unter 10 Jahren. Und ob unsere Arbeit als ?Reform" angesehen werden kann, ist wenigstens eine Nachfrage wert.

Was sind Reformen?

Das Wort kommt vom lateinischen ?reformare" >umgestalten<, >neu gestalten<. Unter Reform versteht man nach dem Grossen Brockhaus ?planmäßige Umgestaltung, Verbesserung, Neuordnung des Bestehenden, besonders (als Gegenbegriff zu Revolution) die gezielte, die Legalität wahrende Umgestaltung politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen (u. a. Verfassungs-, Verwaltungs-, Rechts-, Wirtschafts-, Währungs-, Finanz-, Steuer-, Schul- oder Bildungsreform)." Staatliche Reformpolitik, so heisst es an gleicher Stelle, habe in der Regel das Ziel, ein bestehendes politisches System an veränderte politische oder gesellschaftliche Gegebenheiten anzupassen.

Wir haben 1998 unsere Verfassung nachgeführt und nicht einer Reform unterzogen? Die Bilanz ist zwiespältig.

Die grundlegendste gesellschaftlich relevante Reform, die in den letzten 20 Jahren verabschiedet wurde, ist das neue Eherecht, das 1988 in Kraft trat. Es darf für sich beanspruchen, in geradezu visionärer Art die Grundlagen für ein neues Partnerschaftsverständnis zweier wirtschaftlich unabhängiger Individuen, die gemeinsam durchs Leben gehen, geschaffen zu haben. Sie definieren gemeinsam, wie sie ihr Zusammenleben organisieren wollen. Der Gesetzgeber hält sich mit Vorschriften in dieser Hinsicht in wohltuender Weise zurück. Allerdings tut sich der Gesetzgeber seither unendlich schwer, die nötigen Reformen in allen, das eheliche Zusammenleben mitbestimmenden Gesetzgebungsbereichen, zu vollziehen. Das Scheidungsrecht von 1998, das wir bereits wieder reformieren würden, ist nur ein trauriges Beispiel dafür. Die aus demographischen Gründen bitter notwendigen Revisionen von AHV, IV und BVG schreiben ein Sozialversicherungssystem fort, das immer noch von der Ein-Ernährerehe resp. -familie ausgeht, obwohl heute 70% aller Mütter wenigstens teilweise erwerbstätig sind. Eine Reduktion der Arbeitszeit beider Elternteile, um sich in der Kinderbetreuung aufteilen zu können, können sich nur Leute in gesicherten Positionen leisten. Die meisten von ihnen müssen in ihrer Altersvorsorge Abstriche hinnehmen.

Umgekehrt tut sich die gleiche Gesellschaft noch immer unendlich schwer, endlich flächendeckend die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit beide Elternteile Erwerbstätigkeit und Familie miteinander verbinden können. Ich treffe auch nach 30 Jahren konsequentem Engagement in diesen Fragen immer noch auf die selben Vorurteile. Sie sind zwar alle durch Langzeitbeobachtungen und intensive Untersuchungen alle wiederlegt: Sowohl das emotionale, wonach Kinder leiden würden, wenn sie in Tagesstrukturen statt von der Mutter betreut wurden, als auch das Finanzielle, wonach es zu teuer käme. Das letzte Argument ist sogar dreifach falsch:            

1. volkswirtschaftlich, denn die Ausbildung kostet den Steuerzahler grosse Summen, die im Falle eines - aufgezwungenen - Rückzuges aus dem Erwerbsleben nicht amortisiert wird.

2. betriebswirtschaftlich, denn die Investition in einen Krippenplatz lohnt sich. Auf einen investierten Franken kommen 3 bis 4 Franken zurück in Form von Steuern und Sozialabgaben

3. aus Sicht der Beschäftigungslage. Mit jeder Betreuungseinrichtung werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Das gilt sogar in konjunkturell schwachen Zeiten, denn die Nachfrage nach Betreuungsplätzen ist ausserordentlich konjunkturresistent. Es sind allenfalls kommunale Sparrunden, welche zu Krippenschliessungen führen, aber sicher nicht die Nachfrage.

Reform oder Restauration?

Reformen beginnen im Kopf. Beginnen beim vorurteilsfreien Hinsehen auf die tatsächlichen Bedürfnisse, Tatsachen und Zusammenhänge. Der Reformbedarf in unserer Gesellschaft ist enorm. Wenigstens so gross wie die seit gut 10 Jahren gelebte Reformverweigerung. Was wir beobachten ist Restauration . Darunter versteht man die Wiederherstellung eines früheren, oft durch eine Revolution beseitigten politischen und gesellschaftlichen Zustandes. Was die Strukturkonservativen Kräfte links und rechts im Parteienspektrum propagieren, ist die Wiederherstellung des Zustandes vor 1968.

Die einen glauben, wenn wir wieder genauso leben würden wie unsere Eltern in den 60er Jahren, als der Kalte Krieg in Hochblüte war, dann wäre alles gut. Die Frauen würden wieder bei der Eheschliessung ihren Beruf aufgeben, die Geburtenrate läge bei 2,4 wie damals. Die autarke Schweiz würde wieder etwas gelten in der Welt. Ein Hort der Sicherheit, des Friedens und der Prosperität. Es kämen nur gerufene Saisonarbeitskräfte aus dem kulturell verwandteren Süden, Italien und Spanien, die keinen Familiennachzug begehren, unsere AHV äufnen würden und die wir bei konjunkturellen Schwächen einfach nicht kommen lassen würden resp. nach Hause   schicken würden. Asylsuchende wären nur die von Kommunisten verfolgten Tibeter mit ihrer hohen Kultur, ihrer diskreten Anpassung an unsere Lebensform.

Wir können das Rat der Zeit nicht zurückdrehen. Die Pille ist erfunden. Die Frauen haben die gleichen Ausbildungsbedingungen und wollen arbeiten. Die Geschlechtervormundschaft in der Ehe, welche der Frau die Verwaltung des eigenen Vermögens verwehrte, da sie kein eigenes Bankkonto führen konnte und der Mann ihren Arbeitsvertrag unterzeichnen musste, sind vorbei. Der kalte Krieg ist zu Ende. Die Märkte sind liberalisiert und globalisiert. Um uns herum ist ein Wirtschaffsgigant entstanden, mit dem wir um ein bilaterales Einvernehmen ringen müssen. Die meisten Industrieländer verzeichnen seit Jahren ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum als die Schweiz. Der zweite Sektor, die wertschöpfende Exportindustrie, hat sich dramatisch gewandelt. Es sind 100'000e Arbeitsplätze in diesem Bereich abgebaut worden. Unsere Industriekonzerne sind so gut wie verschwunden. SULZER verzeichnet in der Schweiz noch 700 Mitarbeitende, ABB statt 22'000 knapp 6'000, Maag Zahnräder gibt es nicht mehr, sowenig wie von Roll, Landis&Gyr oder Bührle. Sie heissen zum Teil anders, zum grössten Teil gehören sie ausländischen Konzernen. Der Abbau wertschöpfender Arbeitsplätze in der Schweiz geht ungebrochen weiter, der Aufbau industrieller Arbeitsplätze geschieht - gerade aus der Schweiz heraus - dort, wo die Absatzmärkte sind. Keiner schaut hin.

Einer andern rückwärts gewandten Utopie erliegen die Gewerkschaften und die Linke. Sie glauben, ihre einstigen Forderungen nach Reduktion der Arbeitszeit, nach finanziell abgefederter Frühpensionierung, nach einem immer weiter ausufernden Sozialstaat, bringe das Heil. Im Gegenteil. Es ist keiner mehr da, der dies finanzieren kann. Die Wachstumsschwäche der Schweiz hat neben dem Nein zum EWR und einer viel zu zögerlichen Reformpolitik zu tun mit der ständig steigenden Steuer- und Staatsquote, mit dem enormen Mittelabfluss für eine   immer grösser werdende Zahl von Sozialversicherungs- und Sozialhilfebeziehenden.

Was wir brauchen, ist eine konsequent an der Leistungsfähigkeit der Menschen orientierte Politik, welche Eigenverantwortung konsequent belohnt. Das bedeutet konkret einen Neubau der Sozialversicherungen. Die Invalidenversicherung muss nach dem Modell der SUVA als sozialpartnerschaftlich geführte, vom Staat unabhängige Anstalt ausgestaltet werden. Dem Überobligatorium in der zweiten Säule muss für Arbeitnehmende eine massiv steuerlich entlastete, dritte Säule entgegengestellt werden. Die Tagesstrukturen in Vorschule und Schule müssen zum selbstverständlichen Bestandteil des Schulwesens werden. Wir müssen die Mobilität unserer Bevölkerung weiter erhöhen. Das heisst der Immobilienmarkt muss liquide werden, indem die rettungslos bauverteuernden Vorschriften und Bewilligungsverfahren abgeschafft resp. auch ein striktes Minimum reduziert werden. Wenn wir die Schuldzinsabzüge abschaffen, müssen wir dies im Interesse einer möglichst hohen Eigenheimquote kompensieren durch günstigeres Bauen.

Reformen beginnen im Kopf. Beginnen mit der schonungslosen Analyse von Traditionen und ihrer Konfrontation mit der veränderten Zeit. Ein Reformstau führt zur Revolution. Im Gegensatz zur Reform, zerstört die Revolution manches Erhaltenswerte und tötet oft ihre Kinder. Das Ausbleiben von Reformen führt entweder zum langsamen Erstickungstod oder zur Revolution.

Reformen tun weh, fordern Opfer und Neubeginn. Eine lebenswerte Alternative dazu gibt es allerdings nicht.