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Reform der Kirche
Beitrag an der Reformationsfeier 2003 von Pfarrer Andreas Schwendener, St.Gallen

Es wird von der Reformierten Kirche gesagt, dass sie eine «ecclesia semper reformanda» sei, eine Kirche, die sich im permanenten Zustand der Reformation befindet. Doch Reform ist ein Grundzug der Kirche überhaupt, von ihren Anfängen her. Weil Kirche nie Selbstzweck ist.
Kirchen sind Wegbereiterinnen für etwas Grösseres: für die Ankunft des Gottesreiches. Darum müssen sie mit der Zeit gehen, müssen sich den jeweiligen Völkern und Kulturen anpassen und die Botschaft stets neu übersetzen.
Ich zitiere Jeremias Gotthelf: «Das Christentum bleibt ewig das gleiche, aber wie es in jedem Menschen neu geboren wird, so wird es auch neu geboren in jeder Zeit.»

Angefangen hat es damit, dass Kirche eine Sondergesellschaft im römischen Reich war. Sie verstand sich als Gemeinschaft derer, die sich herausrufen liessen aus der Welt der Vergänglichkeit, um als Getaufte einem jenseitigen, kosmischen Erlöser und dessen verheissenem Reich anzugehören. Dieses eher elitäre und weltabgewandte Selbstverständnis änderte sich mit dem Ausbleiben der Wiederkunft Christi. Kompromisse mit der Welt wurden nötig. Auch ein Soldat im Dienste des römischen Kaisers konnte nun Christ sein.
Als der Kaiser dann selber zusammen mit seinem ganzen Volk Christ wurde, hat die Kirche ihre wohl nachhaltigste Reform erfahren. Sie wurde zur Reichskirche, mit Geldern des Staates gefördert und mit prachtvollen Symbolen der Herrschaft auf Erden inthronisiert. Himmlische und irdische Ordnungen vermischten sich und bildeten sich gegenseitig ab. Eine Kirche, die für alle Bewohner eines Reiches da sein wollte, um allen die Zugehörigkeit zum Volk Gottes anzuzeigen, brauchte klare, einheitliche Grundsätze. Sie musste diese Zugehörigkeit durch das sichtbare Symbole der Kindertaufe festmachen, durch Dogmen die Einheit der Lehre sichern und teils mit Druck und Gewalt das «Heil» durchsetzen.
Das ganze europäische Mittelalter war von diesem Modell des Heiligen Reiches bestimmt. Bis 1798 war der St.Galler Fürstabt geistlich wie auch weltlich für seine Herrschaftsgebiete verantwortlich. In baroker Gestalt hat er der Kirche noch einmal eine auch heute noch bewunderte sichtbare Gestalt verliehen und aus der Einheit von weltlicher und geistlicher Herrschaft alle Bereiche des Lebens gestaltet.
Eine Staatskirche unter weltlicher Herrschaft hat die Reformation eingeführt. Es waren zwar die Reformatoren, einzelne Priester und Gläubige, welche die reformatorische Bewegung vorantrieben. Eingeführt und überwacht aber wurde die Reformation in Schweizer Städten und Ständen durch die politischen Obrigkeiten. Und teils noch über die Zeit unserer Kantonsgründung hinaus haben die polischen Behörden das Kirchenwesen gelenkt oder mitbestimmt.

Heute haben wir in unserm Kanton keine Staatskirchen mehr, aber doch Kantonal- oder Volkskirchen, aufgebaut auf örtlichen Kirchgemeinden. Viele der gesellschaftlich relevanten Gebiete, wie Bildung, Gesetzgebung, Kulturförderung usw. hat der religionsneutrale Staat übernommen. Der Staat unterstützt noch die öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen beim Steuereinzug und gewährt ihnen Zugang zu Schulen, Spitälern, Gefängnissen usw. Wie die Kirchen aber diese Funktionen an den Rändern des Lebens ausfüllt und wie sie ihre je spezifischen kirchlichen Aufgaben lösen, das ist ihre Angelegenheit ...
Rein äusserlich gesehen sieht das nach idealen Voraussetzungen für die Kirchen aus. Die finanzielle Basis ist gut, die Gebäude sind renoviert. Und unabhängig von staatlicher Bevormundung können die Landeskirchen ihrer Aufgabe nachkommen, den Menschen die frohe Botschaft ans Herz zu legen. Nur -- diese Aufgabe geschieht heute in einem gesellschaftlichen Umfeld, das sich verändert hat und noch immer rasant ändert. Das alte kirchliche Lehrgebäude vermag nicht mehr zu überzeugen. Auch das frühere Druck- und Machtgebaren ist nicht mehr zeitgemäss. Die Leute haben das Erbe der Aufklärung aufgenommen, zumindest den Anspruch, selber denken und wählen zu wollen.

Das Interesse an Religion ist geblieben, ja nimmt heute eher zu. Aber meisst suchen und finden die Leute andersweitig, was sie zur Befriedigung ihrer religiöse Bedürfnisse brauchen. Religiöse Orientierung geschieht über persönliche Begegnungen, über Bücher, Vorträge, Meditationsgruppen, über Fernsehen und Radio usw. - und in all den Bereichen sind die Kirchen zu einer Stimme unter vielen geworden.
Der zunehmende Pluralismus setzt die Kirchen unter Reformdruck. Wie kann Kirche in all den neuen Foren und Bewegungen mit der biblischen Botschaft präsent sein? Und kann sie die verschiedenen Kräfte zusammenhalten?
Während die einen eine populäre Gottesdiensteskultur befürworten, wünschen andere eine Konzentration auf schlichte Wortverkündigung und klassisches Liedgut.
Während die einen die ganzheiltichen Weltbilder der neuen Spiritualität aufnehmen, befürworten andere einer Anpassung an die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft.
Und während die einen von den Kirchen erwarten, dass sie ihr politisches Wächteramt wahrnehmen und prophetisch für eine gerechtere Welt eintreten, mahnen andere, beim eigenen Leisten zu blieben und in der Weltverantwortung die dafür spezialisierten Personen walten zu lassen.

Mit ihrer Vision «Nahe bei Gott, nahe bei den Menschen» reagiert die St.Galler Kantonalkirche auf die gesellschaftlichen Veränderungen. Zeitlich befristete Weggemeinschaften sollen Träger innovativer Impulse werden. Die Angestellten erhalten die Gelegenheit, sich ihrer Begabung entsprechend weiterzubilden und zu spezialisieren. Der Pluralismus in der Kirche soll eingeübt und gefördert werden, vor allem durch regionale Zusammenarbeit.
Aber sind diese Reformen nicht eher Flickwerk, neuer Wein in alten Schläuchen? Ist es überhaupt noch möglich, dass eine organisierte Kirche in heutiger Gestalt den Leuten das Evangelium ans Herz legt? Oder hat das Evangelium längst begonnen, andere Wege zu gehen, um zu den Menschen zu kommen?

Gotthelfs Satz, wonach durch jede Generation des Christentum neu geboren werden muss, gehen prophetische Überlegungen voraus. Die Zeit der Aufklärung ordnet er den Flegeljahren der Menschheit zu, wo mit dem alten gebrochen wird, doch es soll eine Zeit des Geistes folgen, einer neuen Vernunft. Vor 200 Jahren träumte Gotthelf von eine Reform, die weit über innerkirchliche Verbesserungen und Anpassungen hinausgeht. Ich zitiere:

«...Der Verstand war erweckt worden und ging dem blinden Glauben zu Leibe, dem die schlummernde Vernunft, das im Winterschlaf erstarrte Gefühl, nicht zur Seite standen. Der Verstand, den die Flügel nicht über das Irdische tragen, erhob ein Triumpfgeschrei, gebärdete sich üppig und übermütig wie ein Jüngling im Flegelalter. ... Das Christentum aber, das viele sterbend glaubten, hat das Leichentuch, in das man es bereits hüllen wollte, abgeworfen und erhebt sich in ewig junger Herrlichkeit. Und gerade die Wissenschaften, mit denen man ihm ins Grab läuten wollte, gerade die haben auf die merkwürdigste Weise Gott verklärt, als einmal die Vernunft auch ihr Wort dazu sprach und das religiöse Gefühl an der lebendigen Anschauung unwillkürliche erwacht war ... Das Christentum bleibt ewig das gleiche, aber wie es in jedem Menschen neu geboren wird, so wird es auch neu geboren in jeder Zeit.»

Ist er erlaubt, dieser Vision anzuhängen? Dem Traum, wo das Christentum - wie damals im Mittelalter, aber auf der Ebene individueller Freiheit, - wieder am Puls des Lebens ist, inmitten der Gesellschaft, der Bildung, der Kunst. Für mich spricht diese Vision nicht gegen unsere Kirchen. Denn Kirchen sind immer nur Wegbereiter für das Kommen des Gottesreichs, für immer neue Formen der Offenbarung. Sie müssen ihren Dienst so gut wie möglich tun bis auf die Zeit, wo das Evangelium neu in die Herzen einbricht und Kirche vielleicht in einer Art und Weise neu entsteht, wie wir sie jetzt noch gar nicht kennen können. Und je klarer in der Kirche das Bewusstsein wächst, wie das Christentum der Zukunft gestaltet sein will, desto klarer können sie sich in den Dienst dieses Übergangs stellen.

Lange und zum Teil bis heute haben die Kirchen sich gegen die Aufklärung und Wissenschaft gestellt. Heute repräsentieren sie in der Gesellschaft das, was den Wissenschaften nicht zugänglich ist. Aber diese Arbeitsteilung ist nicht nur unbiblisch. Sie legitimiert eine geistlose Wissenschaft und eine weltlose Religion. Auch die Menschen selbst sind damit gespalten in eine weltliche und religiöse Sicht der Welt und die beiden Sichtweisen können immer schwerer einander befruchten und beleben. Sollte es möglich sein, dass, wie Gotthelf sagt: «gerade die Wissenschaften, mit denen man dem Christentum ins Grab läuten wollte, auf die merkwürdigste Weise Gott verklären werden - wenn die Vernunft auch ihr Wort dazu spricht und das religiöse Gefühl an der lebendigen Anschauung unwillkürliche erwacht ...?

Vielleicht ist die Zeit noch nicht reif dazu. Doch es brodelt an allen Orten. Es tut sich etwas, aber es lässt sich noch nicht genau sehen, wie der neue Durchbruch sich zeigen wird. Nur einige Kriterien will ich hier noch nennen, welche ein Christentum der Zukunft prägen könnten, Kriterien, welche aus der neuen Zeit heraus sich abzeichnen.


Das Christentum wird sich religionsgeschichtlich so positionieren können, dass es sich selbst in dem Erbe der andern Religionen bereichert finden wird und daher auch in ganz neuer Art dialogfähig wird.

Das Christentum wird sich gegenüber den modernen Wissenschaften so positionieren können, dass diese sich damit kritisch und innovativ herausgefordert fühlen, sich selbst in Bezug zu stellen zu den Grundfragen des Lebens.

Das Christentum wird getragen werden von Laien, die ihre spezifischen Kenntnisse im neuem Lichte der biblischen Verheissungen erkennen und pflegen werden - in Politik, Wissenschaft, Technik, Landwirtschaft, Gewerbe, Kunst usw,

«Das Christentum bleibt ewig das gleiche, aber wie es in jedem Menschen neu geboren wird, so wird es auch neu geboren in jeder Zeit.»

                                                Andreas Schwendener, St.Gallen

                                                            Präsident des Evang.-ref. Forums St.Gallen